"Lukaschenko hat Moskau keine 'prorussischen' Alternativen hinterlassen"

Artjom Schrajbman musste Belarus verlassen, nachdem ihn der inhaftierte Blogger Protesewitsch belastet hatte. Foto: Privat

Der Kreml und der belorussische Präsident - eine Zwangsliebe? Interview mit dem weißrussischen Politologen Artjom Schrajbman

Warum unterstützt Russland die belorussische Regierung Alexander Lukaschenkos - und inwiefern profitiert es davon? Welche Konsequenzen können EU-Sanktionen gegen Belarus haben? Gibt es für Russland zu Lukaschenko keine Alternative? Über diese Themen und seine Flucht aus Belarus sprach Telepolis mit dem Minsker Politologen Artjom Schrajbman.

Der belorussische Politikwissenschaftler Artjom Schrajbman ist als kritischer Analyst der weißrussischen Innenpolitik bekannt. Seine Analysen sind auch in russischen Expertenforen und in liberalen Medien zu finden. Als der inhaftierte oppositionelle Blogger Roman Protasewitsch in seinem TV-Interview am 3. Juni Schrajbman als Beteiligten eines Chats zur Koordination der Oppositionsproteste erwähnt hat, musste dieser aus begründeter Furcht vor einer Verhaftung Belarus verlassen. Schrajbman bestreitet seine Teilnahme an Protestplanungen.

Telepolis: Wie kam es zu Ihrer Entscheidung, Weißrussland zu verlassen? Wie kann das Ihre Tätigkeit als Fachmann beeinflussen?

Artjom Schrajbman: Die Entscheidung zum Wegzug fiel mir sehr leicht, denn die Alternative wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung durch die Behörden gewesen. Deshalb habe ich nicht viel nachgedacht und mich einfach so schnell wie möglich entschieden. Ich hoffe, dass meine analytische Arbeit dadurch nicht beeinträchtigt wird. Mein Büro erbringt Dienstleistungen, so lange meine Kollegen und ich schreiben können. Wo wir uns befinden ist zweitrangig. Ich hoffe, dass meine Unparteilichkeit und Objektivität nicht unter der Tatsache leiden, dass ich im Ausland bin. Mal sehen, wie das in dieser Situation ausgeht. Aber ich hatte keine Wahl.

Der Grund für Ihre Abreise waren Aussagen von Roman Protasewitsch in seinem Interview für den staatlich-belorussischen TV-Kanal ONT. Wie beurteilen Sie dessen Zusammenarbeit mit den Minsker Behörden?

Artjom Schrajbman: Es fällt mir schwer, das Verhältnis und die Zusammenarbeit von Roman Protasewitsch mit den weißrussischen Behörden einzuschätzen. Ich weiß nicht, wie sie ihn bedrängen, mit welchen Argumenten er dazu gebracht wurde, das zu sagen, was er sagte. Also werde ich ihn nicht verurteilen. Er hatte eine Freundin, die genau wie er inhaftiert war. Leute aus den nicht anerkannten Donbass-Republiken interessierten sich für ihn. Es war wohl nicht schwer, neben direkter körperlicher Gewalt Argumente zu finden, um ihn zum reden zu bringen.

Warum wurde nach Ihrer Meinung Ihr Name von Protasewitsch im Interview erwähnt. In wessen Interesse und aus welchem Grund könnte Druck auf Sie ausgeübt werden?

Artjom Schrajbman: Wer profitiert und warum - davon habe ich keine Ahnung. Vielleicht ist es so, dass einige Propagandisten oder Sikowiki mich nicht mögen und beschlossen haben, mich auf diese Weise hereinzulegen: Eine Vertreibung aus dem Land oder Probleme mit einer Verhaftung. Es ist sehr schwer für mich, das einzuschätzen.

Gibt es nach der Überstellung in den Hausarrest für Protasewitsch und seine Freundin Sofia Sapega Anlass zur Hoffnung auf eine positive Lösung?

Artjom Schrajbman: Ich denke, dass Sofia Sapega gute Chancen hat, in ihr Heimatland Russland zurückzukehren. Auch Moskau hat sich hier differenziert geäußert. So hat Minsk viele Gründe, sie nach Russland zu entlassen, vielleicht nach dem Prozess gegen Protasewitsch. Er hat aber ein recht unvorhersehbares Schicksal. Ich weiß nicht, wie die Behörden bezüglich seiner Freilassung entscheiden werden. Es hängt von der politischen Situation zur Zeit des Urteils und danach ab - und von der Entscheidung einer einzigen Person.

Die EU hat vor einigen Tagen neue Sanktionen gegen Belarus verhängt, als Reaktion auf die "Zwangslandung des RyanAir-Flugs in Minsk". Oppositionspolitiker inklusive Swetlana Tichanowskaja sprachen sich für diesen Sanktionsdruck aus. Wie sind die Auswirkungen dieser Sanktionen auf die Bevölkerung in Belarus und könnten sie deren Meinung gegenüber der EU und der Opposition im Exil negativ beeinflussen?

: Artjom Schrajbman: Die Frage nach den Sanktionen ist berechtigt, das erfordert wirklich eine Analyse. Denn es ist schwierig abzuschätzen, wie sich die öffentliche Stimmung ändern wird. Ich denke, dass diese Sanktionen das Potential haben, das Bruttoinlandsprodukt von Weißrussland zu reduzieren, den Lebensstandard der Weißrussen zu senken. Sie treffen wichtige Industrien: Kalium, Öl. Das sind zentrale Branchen für Haushaltseinnahmen und wohl nicht jetzt, aber in sechs Monaten oder einem Jahr, falls die Sanktionen bleiben, werden sie dazu führen, dass neue Lieferverträge in diesen Branchen in Frage stehen.

Das wird ein Haushaltsloch reißen und indirekt viele Belorussen treffen. Hier stellt sich die Frage, ob sie zuvor Regierungsanhänger waren oder nicht. Umfragen unter Oppositionellen und Protestanhängern zeigen, dass sie harte Sanktionen voll und ganz unterstützen. Wir sprechen hier aber von prinzipientreuen, glühenden Unterstützern der Proteste. Das Land besteht nicht nur aus ihnen.

Es gibt auch Regierungsanhänger, die nach den Sanktionen noch schlimmer über die Oppositionsführer und EU denken. Es gibt auch eine beträchtliche Anzahl von Menschen, die man als unpolitische Beobachter bezeichnen kann. Sie werden ebenfalls von den Sanktionen betroffen sein. Wie sich diese Sanktionen auf ihre Haltung gegenüber der EU und den Oppositionsführern auswirken werden, ist nicht vorhersehbar. Ich bezweifle, dass sie die Sanktionen unterstützen. Aber das ist nur meine Vermutung.

Lukaschenko will die bedingungslose Unterstützung Putins

Zu Beginn der Proteste in Weißrussland im Sommer 2020 herrschte in der russischen Politik Unsicherheit über die Strategie gegenüber Alexander Lukaschenko. Jetzt wird die aktuelle Regierung umfassend unterstützt, auch finanziell. Denken Sie, Russland wird davon profitieren? Wie wichtig ist Belarus für die innenpolitische Agenda in Russland?

Artjom Schrajbman: Ich würde nicht sagen, dass es eine volle Unterstützung gibt. Offen gesagt ist die Unterstützung Russlands für Minsk nicht gerade überwältigend. Beim Gas wurden keine Zugeständnisse gemacht, obwohl Belarus darauf bestand. Beim Öl: Russland setzt seine Justierungen der Ölindustrie fort, die Rendite der Weißrussen aus dem Ölgeschäft sinkt. Hier wurden keine Zugeständnisse gemacht. Im Gegenteil weigerten sich wegen US-Sanktionen gegen die weißrussische Raffinerie Naftan auch russische Gesellschaften, Öl zu liefern.

Nun ist unklar, woher das Öl zur Weiterverarbeitung in diesem Werk kommen soll. Russland gewährte zwar einen neuen Kredit. Der musste aber fast vollständig zur Tilgung von Altschulden verwendet werden. Deshalb sind die Beziehungen zwischen Belarus und Russland nicht wirklich ungetrübt. Nach der Wahl flossen keine baren Mittel.

Ich kann nicht sagen, ob Russland von der Sache profitieren wird oder wie wichtig die Unterstützung Lukaschenkos für Putin innenpolitisch ist. Ich glaube, für die normalen Russen ist dieses Thema nicht so wichtig. Aber das Bewusstsein, dass die Russen ihr Geld zu Hause brauchen und nicht für ständige externe Abenteuer, hält die Regierung davon ab, die weißrussische Regierung kopfüber zu unterstützen. Hinzu kommen alle möglichen Bedingungen wie eine vertiefte Zusammenarbeit oder eine Verfassungsreform.

Das ist das zentrale Verhandlungsfeld: Lukaschenko versucht, Putin zu überzeugen, dass es für Russland wichtig sei, ihn um jeden Preis zu unterstützen, da die Alternativen schlimmer seien. Es gibt aber viele Leute in Putins Umfeld, die das anders sehen, die Lukaschenko hassen und nach einer Alternative zu ihm suchen. Aber damit haben sie Probleme, denn Lukaschenko hat sein gesamtes politischen Umfeld gesäubert. So ist der politische "Tanz" wesentlich komplexer als eine grenzenlose Liebe und Unterstützung aus Russland.

Nachdem Russland zu Beginn der Proteste eine abwartende Haltung einnahm - sogar regierungsnahe Zeitungen schrieben zu Beginn mit Sympathie über die weißrussische Opposition - änderte sich das mit der Zunahme von Protesten in Russland selbst. Lukaschenko wurde zunehmend als "Wahl des belorussischen Volkes" geschildert. Liegt die Wahrung einer "formalen Neutralität" nun nicht mehr im russischen Interesse?

Artjom Schrajbman: Da stimme ich generell mit Ihnen überein. Russland hat jedoch seine Entscheidung, Lukaschenko doch zu unterstützen, vor den Protesten im eigenen Land getroffen. Es geschah bereits Ende August, als Putin aussagte, er sei bereit, russische Sicherheitskräfte zu schicken, um Lukaschenko zu helfen. Anfang September kam der russische Kredit - da war diese Entscheidung im Prinzip gefallen. Doch es gab wirklich diese Geschichte mit Nawalny und die Tatsache, dass die oppositionellen weißrussischen Telegram-Kanäle die Nawalny-Proteste unterstützten und umgekehrt die russische Opposition die weißrussische.

In einigen russischen Städten wurden sogar weiß-rot-weiße Flaggen der belorussischen Opposition für Aktionen aufgestellt. Ich denke, das hat dazu geführt, dass sich im Kreml die Einsicht vertieft hat, dass man mit der belorussischen Opposition nichts gemein hat. Sie befand sich auf einem Weg, der nicht der eigene war. Das hat für die Einschätzung gesorgt, dass die Leute nicht die eigenen sind, sondern die, die man ablehnt.

Aber das ändert nichts an der gleichzeitigen Ablehnung Lukaschenkos, das heißt, dieser ist weiter ein genauso unangenehmer Gesprächspartner. Wegen der internen russischen Proteste sind für den Kreml die Alternativen zu Lukaschenko noch inakzeptabler geworden.

Der belorussische Präsident nutzt Moskaus Ukraine-Phobie

Hat Russland echte Einflusshebel auf Lukaschenkos Politik oder ist es eher eine unfreiwillige "Geisel" der unvorhersehbaren Handlungen seines Verbündeten?

Artjom Schrajbman: Russland hat zweifelsohne Druckmöglichkeiten auf Lukaschenko - wirtschaftliche und notfalls politisch-militärische. Aber gerade weil es für Russland keine Alternative zu Lukaschenko gibt, verzichtet es weitgehend darauf, sie anzuwenden. Deshalb ist Moskau in Weißrussland eher träge, es ist in Belarus nicht so aktiv, wie beispielsweise in der Ukraine. Das liegt gewissermaßen daran, dass es wirklich eine Geisel von Lukaschenko wurde. Er hat Moskau keine "prorussischen" Alternativen zu sich hinterlassen.

Für Russland ist es von grundlegender Bedeutung, dass Belarus in der eigenen Einflusssphäre als Verbündeter bleibt und nicht den Weg der Ukraine einschlägt. Da besteht eine richtige Phobie, die Lukaschenko ausnutzt. Genau deshalb ist die gesamte Opposition in Weißrussland nicht prorussischer als Lukaschenko selbst. Sie ist entweder in ihren Ansichten gleich oder eher prowestlich. Es ist kein Zufall, dass sich eine prorussische Opposition in Belarus nie bildete und auch nicht bilden durfte.