Lust auf Engagement: Die Jugend von heute ist viel besser als ihr Ruf

Ergebnisse der 12. Shell Jugendstudie "Jugend '97"

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Was ist das: Es ist "unglaubwürdig, interessengeleitet, langweilig, trocken, unehrlich, korrupt und vom Alltagsleben Schaltjahre entfernt"?

Richtig! - das ist die umschreibende Definition von Jugendlichen im Alter zwischen 12 bis 24 Jahren für Politik und Politiker. "Politiker reden zuviel, aber machen nichts - egal, wer gewählt wird ...", sagt ein 19jähriges Mädchen aus Westdeutschland und bringt mit dieser Aussage die grundsätzliche Haltung der Jugendlichen auf den Punkt.

Die heute am 13. Mai vorlegte 12. Shell Jugendstudie: "Jugend '97" enthält mehr gesellschaftlichen und politischen Zündstoff, als so manchem lieb sein dürfte. Und: Sie ist weniger ein Beweis für die angebliche Resignation oder Entpolitisierung der heutigen Jugend, denn ein Armutszeugnis für all jene, die über 30 Jahre sind.

Wie ist die Studie zustande gekommen?

"Jugend '97" hat - im Gegensatz zur letzten Jugendstudie von 1992 - einen thematischen Schwerpunkt. "Sie will nämlich", schreiben die beiden Hauptverantwortlichen Arthur Fischer und Richard Münchmeier, "Voraussetzungen, Motive und Formen sowie das Verständnis des sozialen, gesellschaftlichen und politischen Engagements Jugendlicher analysieren." Dazu wurde eine repräsentative Fragebogenerhebung bei 2000 und eine qualitative Studie (narrative Interviews) bei 60 jungen Menschen im Alter von 12-24 Jahren durchgeführt. Hinzu kommen 19 biographische Porträts, sozusagen Lebensläufe, die freie Autoren über eine(n) Jugendliche(n) geschrieben haben. Sicherlich zählt dieser Teil der Studie zu den Nachhaltigsten. Denn er gewährt Einblick in die gesamte Biographie und liefert damit den Kontext, der nötig ist, um Haltungen, Ansprüche, Ängste, Engagement einzelner junger Menschen nachzuvollziehen.

Nach wie vor sich hebt sich die Shell Jugendstudie durch ihr unkonventionelles Herangehen wohltuend von ähnlichen Befragungen ab: "Es wurde vermieden, vorab zu definieren und festzulegen, was unter gesellschaftlichem oder politischem Engagement zu verstehen sei, wer als engagiert oder desengagiert zu gelten habe, wie also der Themenbereich einzugrenzen wäre." Mit anderen Worten: Zuerst sind die Jugendlichen zu Wort gekommen, dann wurden die Einteilungen vorgenommen. Auch daß es "DIE" Jugend als "die Jugend" nicht gibt, räumen die Autoren ein.

Rufen wir uns noch einmal ins Gedächtnis, was es eigentlich bedeutet jung zu sein: Es hat immer was mit Freiheit, mit dem Entdecken, Erforschen und Erproben der eigenen Identität und der von anderen zu tun. Natürlich ist das schmerzhaft und schön. Natürlich geschieht all das in Korrespondenz mit der täglichen Umgebung, mit Schule, Lehre, Studium, mit Eltern, Freunden, Feinden, dem sozialen Mitfeld, statt Umfeld. Und immer wieder geht es darum, Grenzen zu überschreiten, auszuloten, anzutesten, herauszufinden, die Sinnfrage zu stellen. Und um so vieles mehr ...

Das Essential: Die gesellschaftliche Krise hat die Jugend erreicht

"Die Krisen im Erwerbssektor, Arbeitslosigkeit, Globalisierung, Rationalisierung ... sind inzwischen nicht mehr 'bloß' eine Randbedingung des Aufwachens ... Sie haben inzwischen vielmehr das Zentrum der Jugendphase erreicht, indem sie ihren Sinn in Frage stellen."

So verwundert auch das Ergebnis nicht: "Unsere Studie zeigt deutlich und an vielen Stellen, das von allen Problemen am stärksten die Probleme der Arbeitswelt die Jugend beschäftigen und nicht die klassischen Lehrbuchprobleme der Identitätsfindung, Partnerwahl und Verselbständigung."

Fast jeder zweite Jugendliche nannte bei der Befragung als Hautproblem der Jugend die Arbeitslosigkeit. Dabei gab es keine geschlechtsspezifischen Unterschiede noch Unterschiede zwischen ost- und westdeutschen Jugendlichen. Bei den geschlossenen Fragen wurde die "steigende Arbeitslosenzahl" von mehr als 92% (!) für "ein großes oder sehr großes Problem für unsere Gesellschaft gehalten; mehr als 88% sehen darin ein Problem, das die persönliche Zukunft stark beeinträchtigen wird". Offenkundig ist das die "prägende Generationserfahrung"!

Und gleichzeitig ein Armutszeugnis für uns alle, die wir über 30 Jahre alt sind. Denn auch wenn die jungen Menschen von heute der Politik, von der sie nicht erwarten, daß sie dieses Problem in absehbarer Zeit löst, die Schuld in die Schuhe schiebt, so dürfen wir uns doch getrost fragen, was wir selbst eigentlich zur Lösung beitragen. Seit Jahren sitzen wir die Ära Kohl aus, haben uns - jeder auf seine Art - mit dem System arrangiert. Und dabei wohl ganz und gar vergessen, die kulturelle Übersetzung weiterzugeben, die für junge Menschen notwendig ist, um Marshall McLuhan's berühmten Satz: "Politics offers yesterday's answers to today's questions" in richtiges Leben umzumünzen. Wenn die Politik also keine Antworten mehr anbietet und wir in diesem Bewußtsein leben, dann müssen wir selbst für Schnittstellen sorgen, die für junge Menschen tragfähige Lebensentwürfe zulassen. Nicht umsonst erleben die Jugendlichen - unabhängig vom Bildungsniveau - den Generationengegensatz als Machtverhältnis ("die Erwachsenen lassen uns nicht mitreden, teilhaben") und äußern den nur allzu verständlichen Wunsch, die jeweils "besonderen Fähigkeiten einbringen können".

Dabei ist es nicht so, daß sie die Demokratie als Staatsform ablehnten, ganz im Gegenteil, oder Gewalt als Ausdrucksform akzeptierten: "Das Gewaltpotential der Jugendlichen ist sehr niedrig, Aktionen, die Gewalt implizieren oder zumindest in Kauf nehmen, werden strikt abgelehnt." Auch an den Werten kann es nicht liegen. Ganz oben in der Skala rangieren Begriffe wie: "Ehrlichkeit, Toleranz, Authentizität, Integrität, Offenheit, Glaubwürdigkeit, Spontaneität, Aufrichtigkeit, Aufeinandereingehen, ..." Doch "politische Parteien genießen von allen gesellschaftlichen Organisationen am wenigstens Vertrauen" - ganz gleich, welcher Partei sie angehören, denn, so formuliert es ein 18jähriges Mädchen aus Ostdeutschland: "Solange die Politik über die Köpfe der Jugendlichen hinweg über deren Belange entscheidet, solange kann man kein Interesse oder Engagement von uns erwarten." Wenn wir das Wort "Jugendliche" durch "Bevölkerung" ersetzen, bringen die jungen Menschen nur das zum Ausdruck, was längst ein gesamtgesellschaftliches Dilemma ist.

Jugendliche wollen sich engagieren, egal ob aus einer "nutzenorientierten" oder einer "zielorientierten Motivation" heraus. Natürlich durchschauen sie die Politik als Anhängsel der Wirtschaft und wissen sehr gut, wo in der modernen, medialen Gesellschaft die Wurst hängt: "Auffallend viele der porträtierten Jugendlichen basteln an einer Berufskarriere in den Bereichen Werbung, Marketing, Journalismus, Kulturmanagement und Kommunikationswissenschaften ... - alle haben kapiert, worauf es ankommt in dieser Gesellschaft: Sich selbst und das eigene Anliegen möglichst optimal zu verkaufen." Genau hier wird aus dem politischen Dilemma wieder ein individuelles. Denn Brücken für die Jugendlichen und ihre neuen Ideen, Ausdrucksformen, Techniken und ihre Kreativität zu bauen, Einstiegs- und Umstiegsmöglichkeiten anzubieten, muß für uns alle erstes Gebot sein.

Vertrauen in eine Generation zu setzen, deren primäre Werte "Ehrlichkeit, Toleranz oder Integrität" sind, kann nicht falsch sein. Dabei geht es weniger um das "soziale", sondern vielmehr um unser aller "Morgen". Denn junge Menschen von heute werden, und das steht ganz außer Zweifel, die Zukunft gewaltig mitbestimmen. Nicht von ungefähr schreibt Nicholas Negroponte, der Direktor des MIT Media Lab, am Ende seines wegweisenden Buches "Total Digital": "Die Kontroll-Bits dieser digitalen Zukunft liegen stärker als je zuvor in den Händen der Jugend. Und nichts konnte mich glücklicher machen."

Jugendwerk der Deutschen Shell (Hrsg.): Jugend '97 - Zukunftsperspektiven, Gesellschaftliches Engagement, Politische Orientierung Gesamtkonzeption und Koordination: Arthur Fischer und Richard Münchmeier, 450 Seiten, DM 19,80, ISBN 3-8100-1853-8, Verlag Leske + Budrich, Opladen.