MH17: Das Auswärtige Amt gerät in die Kritik
Eigentlich hätte Kiew den Überflug über das Kriegsgebiet sperren müssen, aber man wollte auf die Einnahmen nicht verzichten
Es ist ein Nebenschauplatz, den der Rechercheverbund von NDR, WDR und SZ im Hinblick auf den Abschuss von MH17 nun aufgemacht hat. Es geht schlicht darum, dass die Bundesregierung darüber informiert war, dass der Krieg in der Ostukraine auch für Passagiermaschinen, die das Gebiet überfliegen, gefährlich werden könnte. Auch der ganz normale Medienkonsument hatte mitbekommen, dass die Separatisten im Kampf gegen die Angriffe der ukrainischen Luftwaffe in der sogenannten "Antiterroroperation" aufgerüstet und am 14. Juli 2014 eine Militärmaschine in 6500 Meter Höhe abgeschossen hatten.
Es wäre in erster Linie die Aufgabe der damaligen ukrainischen Übergangsregierung gewesen, eine Warnung an alle Fluggesellschaften auszugeben oder den Überflug über das Kriegsgebiet zu sperren. Zumal auch deswegen, weil Kiew bereits damals russische Truppen mit ihrem Gerät auf russischem Territorium für den Abschuss verantwortlich machte (Ukraine: Wirrwarr im Propagandakrieg). Das erfolgte nicht, vermutlich auch aus dem Grund, weil Kiew nicht auf die Gelder verzichten wollte, die aus den Überflugrechten erzielt wurden. Allerdings wurde die Mindestflughöhe für Maschinen auf 10.000 Meter erhöht. Das hätte allen Fluggesellschaften zeigen können, dass es über der Ostukraine nicht ganz ungefährlich war. Aber auch die Fluggesellschaften vermeiden gerne Mehrausgaben, wenn es nicht unbedingt notwendig ist.
Der Anwalt Elmar Giemulla, ein Experte für Flugrecht, der für zwei Angehörige von Opfern des MH17-Absturzes auf Schadensersatz gegen die ukrainische Regierung klagt, geht davon aus, dass die ukrainische Regierung nicht auf das Geld für die Überflugrechte verzichten wollte und damit den Abschuss riskiert habe. Der Anwalt klagt auf Totschlag durch Unterlassen, weil er der Überzeugung ist, dass der Luftraum hätte gesperrt werden müssen - von der ukrainischen Regierung (MH17: Klage gegen die ukrainische Regierung).
Also flogen am 17. Juli 2014, als die MH17 von wem und wie auch immer abgeschossen wurde, auch mehrere Lufthansa-Maschinen unverdrossen über das Kriegsgebiet, obwohl andere Fluglinien bereits andere Routen nahmen. Das Auswärtige Amt hatte nicht auf den "Drahtbericht" vom 15. Juli 2014 reagiert und keine Warnung ausgesprochen. Obgleich es in diesem hieß: "Lage in der Ostukraine sehr besorgniserregend. Abschuss ukr. Transportmaschine in 6000 Metern Höhe stellt neue Qualität dar." Neue Qualität heißt, was auch in den Medien berichtet wurde, dass die Separatisten über Raketenabwehrsysteme verfügen müssen, die Ziele in großer Höhe treffen könnten. Mit tragbaren Flugabwehrraketen wäre eine solche Höhe nicht erreichbar gewesen.
Jetzt entschuldigt sich die Lufthansa mit dem Verweis auf das Auswärtige Amt, obgleich sie selbst durchaus aus öffentlich zugänglichen Informationen hätte wissen können, dass es über der Ostukraine gefährlich sein könnte, wenn Kiew einen Luftkrieg führt und die Separatisten oder russischen Soldaten mit weit reichenden Luftabwehrsystemen ausgerüstet sind. Die Lufthansa: "Wenn die Bundesregierung unser Unternehmen mit der Bewertung 'neue Qualität' gewarnt hätte, wäre Lufthansa sicher nicht mehr über die Ost-Ukraine geflogen."
Die Lufthansa schiebt den Schwarzen Peter dem Auswärtigen Amt zu. Das wiederum verweist auf die Ukraine. Es habe aus damaliger Sicht keinen Anlass gegeben, an der Einschätzung der ukrainischen Behörden zu zweifeln, dass der Luftraum über der Ostukraine über 9753 Metern für Verkehrsflugzeuge sicher sei: "Das Auswärtige Amt ist auch keine Luftverkehrsbehörde." Das ist natürlich ebenso fadenscheinig wie die Argumentation der Lufthansa, gleichwohl stehen die ukrainischen Behörden eigentlich in der Kritik - und die Bundesregierung deswegen, dass sie diese zu decken versuchte und versucht, was nun aber angesichts der Kritik schwieriger wird.
Aus Kiew hörte man seinerzeit nichts, auch jetzt gibt es keine Stellungnahme, dafür aber stetig weitere Forderungen nach Unterstützung. Die Süddeutsche Zeitung, die der Hypothese des Abschusses durch die Separatisten oder die Russen folgt, sieht allerdings die ukrainische Regierung in der Hauptverantwortung. Sie habe den Überflug nicht gesperrt, um eben nicht auf die Einnahmen verzichten zu müssen, die täglich immerhin bis zu 2 Millionen Euro eingebracht hätten.
Das ist in hohem Grad verwerflich. Aber dem wollte der SZ-Investigativjournalist Leyendecker lieber doch nicht nachgehen. Er verwies dann doch wenig investigativ darauf, dass auch der BND nun zu der Erkenntnis gekommen sei, das für den Abschuss verantwortliche BUK-System sei aus Russland gekommen. Bei aller Aufdeckung des investigativen Journalismus muss das entscheidende Narrativ offenbar erhalten bleiben: Kiew ist das Opfer, Moskau oder seine Schergen sind die Schuldigen. Dass die Untersuchung des Absturzes schon längst und eigentlich von Anfang an durch den neuen Konflikt zwischen Russland und dem Nato-Westen kompromittiert ist, hätte man auch erwähnen können. Und warum rücken die Geheimdienste ihre Informationen nicht heraus?