MH17-Prozess eingehüllt in Desinformations- und Medienkampagnen
Für manche Medien wie die SZ ist der Prozess schon entschieden, die niederländische Staatsanwaltschaft kämpft mit vagen Beweisen und gegen Leaks
Am Montag begann der MH-17-Prozess am Bezirksgericht Den Haag im gut gesicherten Justizkomplex am Flughafen Schiphol. Angesetzt ist der Prozess, fast sechs Jahre nach dem Abschuss des malaysischen Passagierflugzeugs MH17 am 17. Juli 2014 auf ein Jahr, erwartet wird ein "Mammutprozess", der sich viele Jahre hinziehen dürfte. Gestern wurde er bereits das erste Mal auf den 23. März vertagt. Die Anwälte des Angeklagten Pulatow hatten zusätzliche Zeit zur Analyse der Anklage gefordert, ein viele Opferangehörige vertretender Anwalt verlangte Zugang zur Fallakte.
Als Beweise liegen vor allem von Bellingcat gesammelte Bilder aus dem Internet, vom ukrainischen Geheimdienst SBU abgehörte Telefonate und Funksprüche, Postings in Sozialen Netzwerken und angeblich bis zu 13 Zeugen vor, von denen einer, wie der scheidende leitenden Staatsanwalt Westerbeke schon vor dem Prozess sagte, den Abschuss der Buk-Rakete gesehen haben soll.
Die niederländische Staatsanwaltschaft wies gestern auf den anonymen Zeugen #58 hin, der 2014 für die Separatisten gearbeitet habe und in der Nähe der Abschussstelle gewesen sei, als die Rakete abgeschossen wurde. Er sollte mit seinem Team die Stelle bewachen, habe er gesagt. Man sei erst froh gewesen, dass das Flugzeug abgestürzt war, bis von der Absturzstelle zurückkehrende Menschen berichtet hätten, dass es sich um eine Passagiermaschine handelte. Nach ihm hätten die Soldaten am Buk-System mit einem russischen Akzent gesprochen, es seien russische Soldaten da gewesen, auch Mitarbeiter des russischen Geheimdienstes FSB. Russische Staatsmedien wenden ein, dass in der Ostukraine viele Menschen russisch sprechen. Die Staatsanwaltschaft, die den Zeugen schützen und verhindern will, dass er vor Gericht aussagen muss, erklärt gleichwohl, dass wichtige Fragen offen seien. Auch mit anderen Zeugenaussagen gibt es wegen deren Vagheit oder der Unauffindbarkeit der Zeugen Schwierigkeiten.
Kritik und Nachfragen unerwünscht
Für manche Journalisten scheint schon vor dem Prozess alles entschieden zu sein. Besonders hervorgetan hat sich hier Thomas Kirchner in der Süddeutschen Zeitung, der in seinem Kommentar zum Prozessbeginn hervorhebt, dass für die Staatsanwaltschaft nicht die Ermittlungen die größte Herausforderung gewesen seien, "sondern die Versuche, die Arbeit der Justiz und das Verfahren an sich in Misskredit zu bringen". Offenbar soll für Leser der SZ gleich jeder Kritik ein Riegel vorgeschoben und eine scharfe antirussische Position bezogen werden:
Das zielte auf die russische Regierung, die alles und jedes in Bewegung gesetzt hat, um die Schuld für dieses schreckliche Unglück von sich zu weisen. Nicht zuletzt, weil ein Geständnis die bis heute geleugnete direkte Kriegsbeteiligung auf ukrainischem Boden bewiese. Also wird gelogen und verdreht, werden Zweifel gesät und 'alternative' Fakten präsentiert, dass man lachen müsste, wenn es nicht um das Leben von 298 Menschen und das unermessliche Leid ihrer Angehörigen ginge. Heerscharen von Trollen helfen dem Kreml bei dieser Verschleierungskampagne - und einige obskure westliche 'Experten', warum auch immer.
Thomas Kirchner
Die niederländische Justiz setze "diesem Irrsinn die Kraft und die Mittel des Rechtsstaats entgegen", was Kirchner schon am ersten Tag des Prozesses weiß. In dem zusammen mit Frank Nienhuysen verfassten Artikel werden denn Zweifel, mittlerweile bekannt gewordene Leaks und forensische Analysen, die der Grund sein dürften, warum die Staatsanwaltschaft schnell Beschuldigungen etwa gegenüber "Orion" zurückgezogen hat und die vom SBU gelieferten Telefonate noch einmal untersuchen lassen will, nicht erwähnt. Dafür heißt es, dass die USA Radarbilder beigesteuert hätten, was ein Geheimnis der SZ-Redakteure ist, denn genau diese blieben die USA schuldig. Und während man von anderen "Experten" mit einer abweichenden Meinung als Trolle spricht, steht man offenbar hinter allen "Erkenntnissen" der "privaten britischen Recherchegruppe Bellingcat", auf die sich auch das JIT stützt.
Die niederländische Staatsanwaltschaft wirft der russischen Regierung vor, durch Hacken versucht zu haben, an Informationen heranzukommen. GRU-Agenten sollen in den Niederlanden und in Malaysia versucht haben, in die Systeme der Ermittlungsbehörden einzudringen. Zeugen würden bedroht und müssten um ihr Leben fürchten, weswegen sie anaonym bleiben müssten.
Die Staatsanwältin Dedy Woei-a-Tsoi beschuldigt Russland, eine Desinformationskampagne zu betreiben. Überhaupt wird Russland vorgeworfen, nicht aktiv bei den Ermittlungen kooperiert zu haben. Russland, das im Gegensatz zur Ukraine und den westlichen Staaten Primärradardaten geliefert hat, wirft seinerseits dem JIT vor, die russischen Informationen nicht aufgenommen zu haben, und den Niederlanden, eine Medienkampagne gegen Russland gestartet zu haben. Aussagen anonym bleibender Zeugen könnten nicht überprüft werden, überdies würden Beweise aus sozialen Netzwerken stammen, deren Authentizität ebenso fraglich sei.
Der Angeklagte Pulatow bringt den Prozess durcheinander
Angeklagt des vorsätzlichen Mordes an den 298 Insassen des Flugzeugs sind drei Russen (Igor Girkin, Sergei Dubinski und Oleg Pulatow) und der Ukrainer Leonid Kharchenko, die beschuldigt werden, in der Kommandokette für den Transport des Buk-Systems des 53. Flugabwehrbrigade aus Kursk an den Abschussort in der "Volksrepublik Donezk" (DNR) bei Snischne und die Rückführung nach Russland verantwortlich zu sein. Keiner der Verdächtigen wird am Prozess teilnehmen, nur Oleg Pulatow wird von zwei niederländischen und einem russischen Verteidiger vertreten. Medien verbreiten die Vermutung, dass "Russland" so Zugang zu den Gerichtsdokumenten erhalten würde, um mit diesen Informationen dann arbeiten zu können.
Er sagt, mit dem Abschuss nichts zu tun zu haben. Die Verteidiger bringen vor, sie hätten die umfangreiche Akte noch nicht vollständig sichten können, es sei aber vieles ungeklärt, beispielsweise warum die Ukraine nicht den Luftraum über der Ostukraine gesperrt habe. Das müsse gesondert untersucht werden. Die Ukraine führte in ihrem "Antiterrorkampf" auch Luftangriffe aus, die Separatisten/Rebellen, von Kiew als Terroristen bezeichnet, wehrten sich und hatten auch bereits Militärflugzeuge abgeschossen. Kiew hätte also damit rechnen müssen, dass der zivile Luftverkehr gefährdet ist. Es wurde aber nur die Flughöhe gering verändert, aber der Luftraum nicht gesperrt.
In der Klage des JIT wird das Thema von dem Prozess ausgeschlossen, mit der etwas seltsamen Begründung, dass MH17 nicht während einer Militärübung oder durch Streitkräfte abgeschossen wurde, "die glaubten, sie würden ihr Land vor einem vermuteten Angriff verteidigen". Das Buk-System hätte, so das JIT, niemals in der Ukraine sein und eine Rakete abschießen dürfen: "Das unterscheidet die Bewertung dieses Falls grundsätzlich von Fällen, wo Irrtümer während einer legitimen militärischen Operation zum Verlust von zivilem Leben führen."
Andererseits hätte man auch fragen können, ob es zu Beginn der Proteste in der Ostukraine, die zu Beginn ähnlich waren wie auf dem Maidan, legitim war, eine Antiterroroperation einzuleiten und mit schweren Waffen und Kampfflugzeugen gegen die Demonstranten vorzugehen. Man kann sich vorstellen, welchen Aufschrei es gegeben hätte, wenn Janukowitsch das Militär gegen die teils bewaffneten Maidan-Protestierer, die gleichfalls Gebäude besetzt hatten und brutal gegen die Polizei vorgingen, eingesetzt hätte.
Weitere Verdächtige als die vier genannten gibt es bislang nicht, insbesondere niemand, der direkt involviert war, das Buk-System herbeizuschaffen und den Abschuss auszuführen. Daher setzt das JIT, wie kürzlich bekannt gegeben wurde, die Ermittlungen während des Prozesses fort, auch wenn man gleichzeitig sagt, die Ermittlungen seien "fast abgeschlossen". Schon zu Beginn trat das Problem auf, dass bislang weder der Staatsanwaltschaft noch dem Gericht oder der Verteidigung die Vernehmungsprotokolle der Zeugen vorliegen. Im Januar hatten Pulatows Anwälte Einspruch dagegen eingelegt, dass sie als bedroht gelten und deswegen anonym bleiben sollten. Überdies ist noch nicht klar, welche Anklagepunkte Pulatow bestreitet, weswegen der Fortgang des Prozesses noch ungewiss ist, beispielsweise welche Zeugen gehört, welche Beweise einer weiteren Überprüfung unterzogen werden müssen und welche Dokumente von den Anwälten eingesehen werden können, die nicht in der über 30.000-seitigen Fallakte enthalten sind.
Die Staatsanwaltschaft und die Leaks
Telepolis hatte im Gegensatz zu vielen Medien über die von Bonanza Media veröffentlichten Leaks von Dokumenten berichtet, die dem JIT vorlagen (Geleakte Dokumente nähren Zweifel am JIT). Beispielsweise hatte der niederländische Geheimdienst mit Verweis auf befreundete Geheimdienste festgestellt, dass in der Nähe des Abschussortes kein funktionsfähiges russisches oder ukrainisches Buk-System mit der erforderlichen Reichweite gewesen sei. Die Staatsanwaltschaft erklärt, der Militärgeheimdienst habe nur untersucht, wo Buk-Systeme längere Zeit im Juni und Juli 2014 aktiv gewesen seien: "Schnelle Operationen, durch die ein Buk-System geliefert, eingesetzt und sofort wieder abgezogen wird, fallen nicht in den Bereich der Beobachtungen" des Geheimdienstes.
Zuvor war eine forensische Analyse der vom SBU abgehörten Telefonate durch ein malaysisches Institut vorgelegt worden, das Manipulationen festgestellt hatte. Allerdings hatte dies nur die über Videos vom SBU veröffentlichten Gespräche analysiert, nicht die Originale. Die niederländische Staatsanwaltschaft sieht deswegen darin keinen Nachweis der Manipulation. Man sehe auch keine Veranlassung, die Authentizität noch einmal zu überprüfen.
Nach einem Bericht der australischen Polizei seien Bilder, die von Bellingcat für den Nachweis des Buk-Transports beschafft und vom JIT aufgenommen wurden, nicht gerichtsfest, da die Metadaten verändert worden seien, überdies würden sie nicht aus der Zeit des Abschusses stammen. Zuvor hatte bereits Russland behauptet, die Bilder seien manipuliert, was die Staatsanwaltschaft aber zurückweist. Man habe nach dem Bericht, der damit als authentisch bestätigt wird, keine Zeichen der Manipulation nach Überprüfung mit Google Streetview, Zeugenaussagen und Telekomdaten bemerken können. Der Bericht der australischen Polizei zeige nur, wie sorgfältig man die Beweise überprüft habe. Allerdings will man die Bilder und Videos vom Transport des Buk-Systems noch einmal überprüfen. Auf den geleakten Bericht der australischen Polizei ging die Staatsanwaltschaft nicht ein.
Interessant ist, dass die Staatsanwaltschaft noch immer zögert, gegen Zemack, den sie erst einmal als möglichen Schuldigen bezeichnete, Ermittlungen einzuleiten. Dass dieser mit Gewalt aus seiner Wohnung in der DNR vom SBU verschleppt wurde und vorübergehend in einem ukrainischen Gefängnis inhaftiert und dort auch vom JIT verhört worden war, scheint kein Problem darzustellen. Ein geleaktes Protokoll einer JIT-Sitzung zeigt, dass solche verdeckten Entführungsoperationen durchaus erwogen worden waren (Neue Leaks vor dem MH-17-Prozess). Das sei ganz üblich bei Geheimdiensten. Zemack war dann aber von der ukrainischen Regierung in einem Gefangenaustausch mit Russland gegen den Protest der Niederlande wieder freigekommen. Zemack wäre wahrscheinlich auch ein schlechter Zeuge, denn er sagte in einem Video kurz nach dem MH17-Abschuss, dass ukrainische Militärmaschinen unterwegs gewesen seien.
Interessant ist auch, dass möglicherweise nach dem geleakten Protokoll einer JIT-Sitzung vom 25. Januar 2018 die niederländische Staatsanwaltschaft am ersten Prozesstag eine Anschuldigung zurückzog. Schon damals war im JIT offenbar klar, dass dem SBU - aber auch Bellingcat - nicht getraut werden kann. So war man davon ausgegangen, dass in einem vom SBU gelieferten abgehörten Telefonat ein "Orion" bzw. Andrei Iwanowitsch der GRU-Offizier Oleg Iwannikow sei.
Bellingcat hatte erklärt, sie hätten die Identität "mit hoher Wahrscheinlichkeit" nachgewiesen. Der soll am 14. Juli gesagt haben, sie hätten nun ein Buk-System und könnten damit ukrainische Militärmaschinen abschießen. Der niederländische Polizist Gerrit Thiery sagte bei dem Treffen, dass Orion nicht einmal mit Andrei Iwanowitsch zu verbinden sei. Die Staatsanwaltschaft sagte jetzt, dass Orion sich wahrscheinlich auf das Buk-System bezogen hat, das - so ging es auch aus dem geleakten Bericht des niederländischen Militärgeheimdienstes hervor - funktionsunfähig war. Auch das einst als relevant betrachtete Telefongespräche von Igor Bezler wurde jetzt zurückgezogen.
Nach der Staatsanwaltschaft haben aber solche Treffen der JIT-Mitarbeiter wie in dem geleakten Protokoll keine Bedeutung für den Prozess. Nur die Niederlande, Belgien und Australien könnten auf solche Dokumente zugreifen (warum die Ukraine nicht, wird nicht gesagt). Die hätten aber keine Leaks ausfindig gemacht, weswegen wahrscheinlich der russische Geheimdienst mit seinem Hackversuchen dahinter stecke, was aber auch nicht mehr als eine Vermutung ist. Auffällig ist, dass nicht erwähnt wird, dass der ukrainische Geheimdienst SBU "niederländische Diplomaten, Militärs, Geheimdienstmitarbeiter und Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft (Openbaar Ministerie) abgehört" haben soll (Ukrainischer Lauschangriff auf niederländische MH17-Ermittler).