Macht - Bevölkerung - Politik

Quellen: Bis 1950: Census Bureau of the USA - Niedrige Schätzung (Auswahl). Ab 1950: UN Population Division: World Population Prospects, the 2010 Revision; Excel Tabelle: Total Population both sexes. Eigene Darstellung.

Das Wachstum der Weltbevölkerung geht zurück. Gleichzeitig verschieben sich die weltweiten Siedlungsschwerpunkte - aber nicht die globalen Machtstrukturen

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Ab Mitte des 21. Jahrhunderts sinkt die Weltbevölkerung - die "Bevölkerungsbombe" explodiert nicht. Es eröffnen sich Möglichkeiten mit nachhaltigem Wirtschaftswachstum steigenden Weltwohlstand zu realisieren. Der "Westen" muss akzeptieren, dass seine Wertvorstellungen keine globale Mehrheit finden. Der schrumpfende Bevölkerungsanteil setzt dem Grenzen. Ohne Kooperationsstrategien verliert der "Westen" seine ökonomisch-technologische Vormacht.

10.000 v.u.Z. - Aufbruch

Mit dem Ende der letzten Eiszeit beschleunigte sich das Bevölkerungswachstum. Das "Zeitalter der Menschen" - das Anthropozän - begann. Es ist ein bis heute offenes Projekt des Terraformings (http://de.wikipedia.org/wiki/Terraforming). Deutlich sichtbar war bereits damals die zunehmende Umgestaltung der Oberfläche durch Brandrodung und Ackerbau. Parallel dazu erfolgte eine weitgehende Ausrottung größerer Wildtiere sowie die Schaffung neuer Spezies durch Domestikation von Tieren und Pflanzen.

Nach heutigen Schätzungen stieg von 10.000 bis 8.000 v.u.Z. die Bevölkerungszahl von 1 auf 5 Mio. Individuen. Anschließend begann eine über neuntausendjährige Phase der langsamen Vermehrung. Für eine Verdopplung der Bevölkerung benötigte die Menschheit jeweils ca. 1.000 Jahre. Das entspricht einer Zuwachsrate von unter 0,1 Prozent pro Jahr. Erst mit dem Beginn des 18. Jahrhunderts steigerte sich das Wachstum auf eine Verdopplung in 150 Jahre und beschleunigte sich in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts auf 40 Jahre.

Kennzeichnend für die Bevölkerungsentwicklung bis ins 18. Jahrhundert sind kurze dynamische Phasen und längere der Stagnation bzw. des Rückgangs. In der unteren Grafik erfolgt zur besseren Visualisierung die Darstellung der Bevölkerungsentwicklung nur bis 1850. Rückgänge bei der Bevölkerung treten so deutlicher hervor - beispielsweise durch Pestwellen in Europa, Asien und Nordafrika vom 13. bis 15. Jahrhunderts oder die Auswirkungen der kleinen Eiszeit im 16. und 17. Jahrhundert. Die unsichere Datenlage für vorhergehende Zeitabschnitte spiegelt sich im scheinbar kontinuierlichen Verlauf wieder. Nur äußerst gravierende Schwankungen sind mit (heutigen) archäologischen Funden belegbar.

Quellen: Census Bureau of the USA - Niedrige Schätzung (Auswahl). Eigene Darstellung.

18. Jahrhundert - Dynamisierung

Der Charakter des Bevölkerungswachstums veränderte sich vor 300 Jahren grundlegend. Die weltweite Zunahme erfolgt nun ohne Rückschläge. Selbst verheerende, von Menschen gemachte Katastrophen, wie die zwei Weltkriege, schwächen den Anstieg lediglich ab, können aber die Gesamtdynamik nicht brechen. Die Zunahme beträgt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwischen 100-200 Mio. Menschen pro Jahrzehnt. Ab den 1950er Jahren steigerte sich dieser Wert beträchtlich. Der historische Höhepunkt pro Jahrzehnt wurde mit ca. 850 Mio. Menschen in den 1980er Jahren erreicht.

Quellen: Bis 1950: Census Bureau of the USA - Niedrige Schätzung (Auswahl). Ab 1950: UN Population Division: World Population Prospects, the 2010 Revision; Excel Tabelle: Total Population both sexes. Eigene Darstellung. Bevölkerungszunahme pro Jahrzehnt eigene Berechnung.

Als zentral gelten dafür drei Ursachen. Erstens findet eine deutliche Leistungssteigerung der Agrarwirtschaft seit Mitte des 19. Jahrhunderts statt. Angetrieben wird diese Entwicklung durch die Einführung wissenschaftlicher Methoden, durch Rationalisierungsprozesse sowie signifikante Erhöhungen der Kapitalintensität. Deutliche Kennzeichen sind die Mechanisierung und Chemisierung. Zweitens steigern Fortschritte in der Medizin und der Hygiene die Überlebensraten von Kindern, reduzieren Krankheits- sowie Seuchenrisiken und verlängern die Lebenserwartung. Drittens beschleunigt der internationale Handel die weltweite Verteilung von Produkten, Kapital und Technologien. Dieser Austausch bedeutet vor allem eine stärkere Unabhängigkeit von lokalen Bedingungen. Zunehmend können - politischer Wille und ökonomische Leistungskraft vorausgesetzt - selbst langfristige lokale Unterversorgungen der Bevölkerung über die internationalen Märkte ausgeglichen werden.

20. Jahrhundert - Klimax

Seit dem historischen Höhepunkt sinkt die absolute Zunahme der Weltbevölkerung. Inzwischen liegt sie bei weniger als 800 Mio. Menschen pro Jahrzehnt. Der Wendepunkt lag in den 1960er Jahren. Damals erreichte die relative Zunahme der Bevölkerung mit über 2 Prozent pro Jahr ihr historisches Maximum. Seitdem nehmen die Zuwächse weltweit sowohl in den Industrie- als auch in den meisten Entwicklungsländern ab. Lediglich die am wenigsten entwickelten Länder weisen nach wie vor hohe Wachstumsraten von über 2 Prozent pro Jahr auf.

Quelle: UN Population Division: World Population Prospects, the 2010 Revision; Excel Tabelle: Population Growth Health. Eigene Darstellung.

Derzeitige Prognosen zur Bevölkerungsentwicklung sind widersprüchlich. Die UN verwendet für Bevölkerungsprognosen meist drei Szenarien - mit niedrigen, mittleren sowie hohen Werten. Diese Auswahl soll die Bandbreite der möglichen Entwicklungen aufzeigen. Oft ist diesen Varianten noch ein "konstantes"-Szenario gegenübergestellt. Darin wird der derzeitige Stand aller Faktoren beibehalten und in die Zukunft extrapoliert. Damit soll aufgezeigt werden, wie sich die Zukunft entwickelt, wenn die Rahmenbedingungen unverändert blieben. Durch die Annahme sinkender Geburtenraten für die anderen Szenarien, liegt das errechnete Bevölkerungsniveau beim "konstanten"-Szenario deutlich über den aller anderen. Es ist im gewissen Sinne das Katastrophen-Szenario.

21. Jahrhundert - Stabilisierung

2004 veröffentlichte die UN eine herausragende Studie über die Bevölkerungsentwicklung der nächsten 300 Jahre. Es erfolgte keine Betrachtung des "Status-quo". Kernaussage: Das Wachstum der Bevölkerung verlangsamt sich deutlich. Selbst im hohen Szenario dauert die Verdopplung der heutigen Bevölkerung auf 14 Mrd. Menschen voraussichtlich bis zum Ende des 21. Jahrhundert - über 80 Jahre. Die nächste Verdopplung auf 28 Mrd. würde erst Mitte des 23. Jahrhunderts vollendet - nach nochmals 150 Jahren. Damit entspräche die Bevölkerungszunahme auch im dynamischsten Szenario "nur" der des 17./18. Jahrhunderts. Im Szenario für die niedrigste Entwicklung erfolgt ab dem Jahr 2050 sogar ein kontinuierlicher Rückgang. Erst im 23. Jahrhundert stabilisiert sich hier die Bevölkerung bei knapp über 2 Mrd. Menschen.

Quelle: UN Population Division: World Population to 2300; New York: 2004, S. 27. Eigene Darstellung.

Die Studie über die Entwicklung der Bevölkerung bis ins 23. Jahrhundert basiert auf Daten des Jahres 2000. Seitdem hat die reale Entwicklung - derzeit leben ca. 7 Mrd. Menschen auf der Erde - diese Schätzungen in Teilen übertroffen. Die Wachstumsrate sank weniger stark als erwartet. Entsprechend prognostiziert die UN im neuesten - 2012 erstellten - World Population Prospect 2010 ein höheres Bevölkerungsniveau für alle Szenarien. Die Differenzen betragen je nach Szenario und Zeitpunkt zwischen 400 Mio. und 1,8 Mrd. mehr Menschen. Auch rechnet die UN außer beim niedrigsten Szenario nicht mehr mit einer Stabilisierung der Bevölkerung vor dem 22. Jahrhundert. Die Bevölkerung würde um das Jahr 2100 im hohen Szenario 14 bzw. nach dem mittleren 10 Mrd. Menschen betragen und langsam weiter wachsen.

Bevölkerungsrückgang wahrscheinlich

Allerdings trifft die prognostizierte Erhöhung der Bevölkerungsentwicklung auf Widerspruch. Insbesondere die 2010 angenommene - nach einer Umstellung der Statistik - neue fundamentale Prämisse, dass sich die weltweite Fertilität auf dem Bestandserhalt einpendelt - also bei 2,1 Kindern pro Frau - wird kontrovers diskutiert. Besonders überrascht, dass die UN für diese Annahme keine Begründung außerhalb statistischer Modelle vorgelegt hat.

Entsprechend muten die Übergänge zu einer stabilen Geburtenrate für viele Länder willkürlich an. Beispielsweise kann Deutschland seit 100 Jahren seinen Bevölkerungsbestand durch eigene Geburten nicht mehr erhalten. Trotzdem soll dies ab 2010 mit langsam steigenden Geburtenraten bis 2090 erreicht werden. Warum sollte diese Steigerung jetzt eintreten? - Die Prognosen des Demographieberichts 2011 der deutschen Bundesregierung sehen die deutsche Bevölkerungsentwicklung unterhalb des mittleren UN-Szenarios bis zum niedrigsten Szenario.

Quelle: UN Population Division: World Population Prospects, the 2010 Revision; Excel Tabelle: Total Fertillity. Eigene Darstellung.

Auch der Club of Rome prognostiziert in der Studie "2052: A Global Forecast for the Next Forty Years" eine Entwicklung unterhalb des niedrigsten UN-Szenarios. Die Autoren schätzen, dass die Bevölkerungsentwicklung den Höhepunkt im Jahre 2040 mit 8,1 Mrd. Menschen erreicht. Zur Begründung des anschließenden Rückgangs verweisen sie auf die schrumpfende Bevölkerung in den Industriestaaten. Keiner dieser Staaten ist in der Lage ohne Einwanderung die Bevölkerung auch nur stabil zu halten. Gleichzeitig sinkt die Fertilität in den Städten der Schwellenländer ebenfalls unter das Niveau der Bestandserhaltung.

Die diskutierten Annahmen zeigen, dass im Verlauf des 21. Jahrhunderts nicht nur eine deutliche Verlangsamung des Wachstums sondern sogar ein Rückgang der Bevölkerung wahrscheinlich ist. Die viel beschworene "Bevölkerungsbombe" tritt nicht ein. Im Gegenteil, es eröffnen sich Möglichkeiten mit niedrigeren, nachhaltigem Wirtschaftswachstum steigenden Wohlstand für alle zu schaffen.

Das afrikanische Jahrhundert

Über Jahrtausende hinweg lebte über 70 Prozent der weltweiten Bevölkerung auf dem eurasischen Kontinent - Mitte des 19. Jahrhunderts sogar über 85 Prozent. Mehrere Wachstumsschübe - im 19. Jahrhundert in Europa und im 20. in Asien - überdeckten die seitdem stattfindende Verschiebung der Bevölkerungsgewichte. Gegenwärtig weisen in beiden Kontinenten nur wenige Staaten hohe Wachstumsraten auf. Im Gegenteil, in Europa und in den Industriestaaten Asiens setzen Bevölkerungsrückgänge ein. China sowie einige nicht-industrialisierte Staaten Südost-Asiens werden dem bald folgen.

In 100 Jahren könnte der Anteil Eurasiens an der Weltbevölkerung unter 50 Prozent liegen. Im Zuge dessen stellt sich wahrscheinlich ein Gleichgewicht zwischen Europa, Nord- und Südamerika mit jeweils zwischen 5 - 7 Prozent der globalen Bevölkerung ein. Asien wird auch dann noch die meisten Menschen beherbergen - aber mit deutlichen Verschiebungen der Bevölkerungsschwerpunkte hin zu den Staaten Süd- und Südostasiens. Einen Aufstieg erlebt Afrika. Treten die derzeitigen Prognosen ein, wird dort in Zukunft über 30 Prozent aller Menschen leben - möglicherweise über 3 Mrd. Das 21. wird das afrikanische Jahrhundert.

Verschiebung Bevölkerung = Verschiebung der Macht?

In Europa als auch Nordamerika wird die politische Diskussion von der Befürchtung geprägt, mit einer (zu) kleinen Bevölkerung außenpolitisch an Einfluss zu verlieren. Aber trotz sinkenden Anteils an der Weltbevölkerung dominierten beide Kontinente im 20. Jahrhundert. Beunruhigt sind vor allem "Tonnenideologen" - Anzahl der Menschen, Anzahl an Fahrzeugen und Schienenkilometern, Höhe des absoluten BIP… Sind das in Gesellschaften des Überflusses noch relevante Indikatoren?

Die Entwicklung des 20. Jahrhundert zeigt deutlich, dass die zentrale Frage nicht die absolute Größe der Bevölkerung ist, sondern entscheidend ist die Fähigkeit diese zu bilden, zu organisieren sowie mit Produktionskapital auszustatten. Hier führen die "alten Mächte" mit überragendem Abstand. Beispielhaft verdeutlichen dies Berechnungen zur Wirtschaftsleistung pro Kopf. Derzeit erwirtschaftet die EU ein viermal höheres BIP pro Kopf als Südamerika und ein neunmal höheres als Staaten Ost-Asiens (ohne die Industriestaaten: Taiwan, Südkorea, Japan). Der Rückstand von Subsahara-Afrika und Südasiens ist noch größer. Das schlägt sich in wesentlich besseren Werten der EU für den Bildungsgrad der Bevölkerung, deren Gesundheitszustand, Kriminalitätsraten, Leistungsfähigkeit der Infrastruktur, Energieeffizienz, Intaktheit der Umwelt… nieder.

Die gewaltigen Aufgaben der heutigen Entwicklungs- und Schwellenländer verdeutlicht ein Rechenbeispiel. So müssten Südamerika und die Entwicklungsländer Ost-Asiens, um bis 2050 die ökonomische Leistungskraft Spaniens (24.000 € 2008) zu erreichen, ein jährliches Wirtschaftswachstum pro Einwohner von 3 bzw. 5 Prozent über (!) dem Bevölkerungswachstum erzielen. Vor noch größeren Herausforderungen stehen Südasien (Indien/Pakistan) und Subsahara-Afrika. Zur Erreichung des Wirtschaftsniveaus Polens (9.500 € 2008) müssten das Wachstum pro Einwohner in diesen Regionen 40 Jahre lang 6 Prozent pro Jahr betragen - ebenfalls oberhalb der Bevölkerungszunahme. Selbst dann wären bei einem Wirtschaftswachstum von nur einem Prozent die ökonomische Leistung pro Einwohner der EU zu Ostasien und Südamerika mehr als 1,5 und zu Afrika und Südasien mehr als vier Mal so groß.

Quelle: 2010: Datenbank Weltbank; Prognose 2050: Eigene Berechnungen; angenommenes Wachstum pro Jahr oberhalb des Bevölkerungszuwachses: EU + Nordamerika 1 Prozent; Südamerika 3 Prozent; Ost-Asien 5 Prozent; Afrika und Südasien 6 Prozent.

Veränderung der Außenpolitik

Die Mächte des 20. Jahrhunderts werden in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts - gemessen an Wirtschaftsleistung, Wohlstand der Bevölkerung und Leistungsfähigkeit der Infrastruktur - die bereits jetzt führenden Staaten sein. Die anderen Regionen haben nur reale Chancen des Aufholens, wenn sie sich auf wirtschaftliches Wachstum und sozial-ökologische Stabilität konzentrieren. Eine Politik gegen die derzeitigen Machtzentren - die zurzeit keine der nicht "westlichen" Großmächte betreibt - würde die dafür notwendigen Ressourcen absorbieren.

Aber diese Perspektive gilt auch für den "Westen". Er wird sich seinen ökonomisch-technologischen Vorsprung nur bewahren können, wenn er akzeptiert, dass seine Wertvorstellungen und Ordnungsmodelle keine Mehrheiten mehr finden. Eine gewaltsame Durchsetzung wird bei dieser Bevölkerungsverteilung und Wirtschaftsentwicklung scheitern. Einfluss kann nur erhalten bleiben, wenn er anderen Regionen hilfreich ist ein ähnliches Wohlstandniveau zu entwickeln. Die westlichen Eliten müssen dafür Umdenken - weg von Droh- und Dominanzpolitik, hin zu globaler Kooperation und Partnerschaften.

Kai Kleinwächter ist Mitarbeiter der Redaktion von WeltTrends - Zeitschrift für internationale Politik. Die letzte Ausgabe zum Thema "Neue Weltordnung 2.0" erschien im September 2012.