Machtkampf um die EU-Kommission
Das Europaparlament hat sich festgelegt: Jean-Claude Juncker soll nach seinem knappen Sieg bei der Europawahl die Brüsseler Behörde führen. Doch die Staats- und Regierungschefs der EU spielen nicht mit
Ein Fest der Demokratie sollte sie werden, die Europawahl. Endlich, nach fünf Jahren Dauerkrise, sollten die Bürger das Wort haben. Der Spitzenkandidat der Sozialdemokraten, Martin Schulz, wollte aus dieser Wahl sogar eine Richtungsentscheidung über die EU-Politik machen. Schluss mit Austerität und Reformdiktaten, hin zu einer sozialeren und wachstumsfreundlichen Politik, hieß sein Motto, mit dem er hausieren ging.
Doch daraus wurde nichts. In Deutschland, Italien und Griechenland gab es zwar immerhin so etwas wie Aufbruchstimmung. Die SPD holte mehr Stimmen als bei der letzten Europawahl vor fünf Jahren, auch Alexis Tsipras und Matteo Renzi schlugen sich besser als erwartet. Doch Schulz überzeugte nicht genug Wähler, um die neoliberale Politik von Kanzlerin Angela Merkel und ihren Brüsseler Followern ernsthaft herauszufordern.
Und so wurde nun sein Herausforderer Jean-Claude Juncker beauftragt, sich um eine Mehrheit im Europaparlament zu bemühen. Dabei ist der Kandidat der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP), der auch CDU/CSU angehören, selbst ein Wahlverlierer. Seine Fraktion ist nur um 22 Sitze größer als die der Sozialdemokraten. Im Vergleich zur Europawahl 2009 verlor sie rund 60 Sitze - vor allem an rechte Populisten und Nationalisten.
Um eine Mehrheit zu finden, ist Juncker auf die Stimmen der Liberalen und der Sozialdemokraten angewiesen - also auf eine ganz große Koalition im Europaparlament. Beide Fraktionen haben sich bereits grundsätzlich bereit erklärt, Juncker zu küren. Sie dürften aber Bedingungen stellen, genau wie die Grünen. Am Ende könnte erstmals eine förmliche Koalitionsvereinbarung stehen, die dem "Wahlsieger" enge Fesseln anlegt.
Ohnehin ist Juncker ein Politiker des Status quo. Der ehemalige Eurogruppenchef steht - obwohl zu Hause eher sozialliberal - für die brutale Euro-Rettungspolitik, die mit Austerität und Reformdiktaten für Massenarbeitslosigkeit in Europa gesorgt hat. Als Ex-Premier von Luxemburg steht er zudem für die Interessen der Finanzwirtschaft; erst nach seinem Abgang willigte das Land endlich in die Aufhebung des Bankgeheimnisses ein.
Allianz gegen Juncker
Allerdings ist Juncker zugleich ein überzeugter Pro-Europäer, der sich sowohl mit den Benelux-Staaten als auch mit Deutschland und Frankreich blendend versteht. Genau das macht ihn aus Sicht des britischen Premiers David Cameron, aber auch aus Sicht vieler EU-Gegner ungeeignet für ein hohes Brüsseler Amt. Bereits seit Tagen versucht Cameron, eine Allianz gegen Juncker zu schmieden. Dabei zählt er vor allem auf Merkel.
Die mächtigste Politikerin Europas hatte schon vor zehn Jahren bewiesen, dass sie missliebige EU-Kandidaten wegbeißen kann. Damals wollte Ex-Kanzler Gerhard Schröder den belgischen Liberalen (und Föderalisten) Guy Verhofstadt zum Kommissionschef ernennen. Doch Merkel, damals noch Oppositionsführerin, schmiedete mit Camerons Amtsvorgänger Tony Blair eine Intrige und hievte stattdessen José Manuel Barroso ins Amt.
Seitdem ist die EU-Kommission nur noch ein Schatten ihrer selbst. Barroso hängt an Merkels Lippen, eigenständige Initiativen gehen von Brüssel kaum noch aus. Mit einem neuen Kommissionspräsidenten Juncker könnte sich das ändern - oder auch nicht: Wenn es Merkel gelänge, den Barroso-Nachfolger auf ihr Programm zu verpflichten - zum Beispiel durch eine Koalitionsvereinbarung nach deutschem Muster - wäre die Berliner Welt wieder in Ordnung.
Dies ist der Hintergrund, vor dem am Dienstagabend ein Sondergipfel der EU in Brüssel stattfand. Im lockeren, aber auch vertraulichen Rahmen eines Abendessens wollten Merkel, Cameron und die übrigen Chefs klären, wie sie Barroso-Nachfolge, aber auch andere wichtige Personalentscheidungen einfädeln können. Einfach ist das nicht, denn der Rat entscheidet meist im Konsens und achtet dabei auf Parteien-, Geschlechter- und Länder-Proporz.
Mit Entscheidungen sei an diesem Abend nicht zu rechnen, hatte EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy (auch für ihn wird ein Nachfolger gesucht) schon vorab mitgeteilt. Bis zur Nominierung eines neuen Kommissionspräsidenten könnten noch Wochen vergehen, hatte auch Merkel gewarnt. Zu Beginn des Gipfels gab sie sich nur etwas verbindlicher: "Jean-Claude Juncker ist unser Spitzenkandidat für das Amt des Kommissionspräsidenten." Ob sie für ihn kämpfen werde, ließ Merkel offen.
Wesentlich offensiver gaben sich dagegen die Juncker-Gegner. Neben den Briten wollen auch die Ungarn und die Schweden verhindern, dass das Europaparlament zu stark wird und der siegreiche Spitzenkandidat irgendwelche Ansprüche stellen darf. Ungarns rechtskonservativer Regierungschef Viktor Orban unterstrich: "Unsere Haltung ist, dass es keine automatische Verbindung zwischen dem Wahlergebnis und der Nominierung gibt."
Rat gegen Parlament
Am Ende bekam Gipfelchef Herman Van Rompuy den Auftrag, mit dem Parlament zu verhandeln. Doch worüber, blieb offen. Schließlich haben sich die Abgeordneten hinter Juncker gestellt - er soll versuchen, eine Mehrheit zu bilden. Und die Sozialdemokraten haben unmissverständlich gefordert, dass ihr unterlegener Kandidat Schulz einen wichtigen Kommissionsposten erhalten soll. Unklar ist nicht die Haltung des Parlaments, sondern des Rats.
Nach dem Gipfel erwähnte Van Rompuy nicht einmal den Namen Junckers. Und Merkel sagte, der Luxemburger sei nicht der einzig fähige Kandidat für die EU-Kommission. Wie üblich hielt sie sich alle Optionen offen. Personalfragen seien im Grunde genommen gar nicht so wichtig, so der Tenor dieses ebenso denkwürdigen wie sinnlosen Sondergipfels. Viel wichtiger sei der Arbeitsauftrag des neuen Kommissionschefs, so Frankreichs Präsident Francois Hollande.
Letztlich wurde der Machtkampf zwischen den beiden EU-Institutionen diesmal nur vertagt. Dasselbe gilt für die Frage, welche Konsequenzen die EU aus dem desaströsen Wahlergebnis und der massiven Vertrauenskrise in Europa zieht. Erst beim nächsten EU-Gipfel Ende Juni soll es - vielleicht - Ergebnisse geben. Letztlich werden die Wähler damit verschaukelt. Ihre Stimme zählt nur, wenn es den EU-Chefs gefällt - und wenn sichergestellt ist, dass der neue Kommissionschef nach ihrer Pfeife tanzt.