Macron und der kommende Machtkampf
Frankreichs Staatschef geht immer offener auf Gegenkurs zu Kanzlerin Merkel. Zuletzt sprach er von "fruchtbaren Konfrontationen" - nach der Europawahl könnte es zum Showdown kommen
Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union haben es eilig, verdächtig eilig. Nur zwei Tage nach der Europawahl wollen sie sich am 28. Mai in Brüssel treffen, um über das weitere Vorgehen zu beraten. Dann wird es nicht nur darum gehen, dem Wahlsieger zu gratulieren und über mögliche Kandidaten für die Nachfolge von EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker zu sprechen.
Es könnte auch zu einem Showdown zwischen Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron kommen. Zwischen den beiden wichtigsten EU-Chefs liegen die Nerven blank. Trotz der wohlfeilen öffentlichen Bekenntnisse zur deutsch-französischen Freundschaft läuft fast nichts mehr zwischen Macron und Merkel.
"Das deutsch-französische Paar steht am Rande der Scheidung", meldete Libération schon Mitte April, nach einem spannungsgeladenen Brexit-Krisengipfel. Merkel wollte den Briten eine möglichst lange Bedenkzeit einräumen, Macron drängte auf eine schnelle Entscheidung. Am Ende wurde der Brexit bis Halloween verlängert - ein Kompromiss, der niemanden zufrieden stellt und das Chaos weiter verlängert.
Keine gemeinsame Zukunftsvision
"We have reached the end of the Franco-German love-in", schrieb fast gleichzeitig Wolfgang Münchau in der Financial Times. Auch er bezog sich auf den verunglückten Brexit-Gipfel - aber auch auf die zunehmenden Interessengegensätze zwischen der unerklärten europäischen "Führungsmacht" Deutschland und dem zunehmend nervösen Frankreich. Berlin und Paris hätten keine gemeinsame Zukunftsvision mehr, so Münchau, und die neue CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer (AKK) habe Macron vor den Kopf gestoßen.
Dass es ein Problem gibt, hat nun - mit einiger Verzögerung - sogar Spiegel online eingeräumt. Macron versuche, seine Amtszeit mit einer Neupositionierung in Richtung Deutschland zu retten, analysiert man dort. Der mächtige Nachbar am Rhein sei für ihn kein Reformvorbild mehr, sondern wirtschaftliches Auslaufmodell. "En garde, Deutschland" war der Beitrag überschrieben, Berlin müsse sich in Acht nehmen.
Was stimmt denn nun? Ist das deutsch-französische "Paar" schon hoffnungslos zerrüttet oder sind das alles nur Alarmsignale und Weckrufe? Fest steht, dass Macron die rosarote Brille abgelegt hat, mit der er Deutschland und vor allem Merkel noch bei seinem Amtsantritt im Mai 2017 betrachtet hatte. Zwei Jahre lang hat er mit leidenschaftlichen Reden und flammenden Appellen für eine "Neugründung" der EU unter deutsch-französischer Führung geworben. Zwei Jahre lang hat Merkel ihn höflich, aber bestimmt abgewiesen.
"Fruchtbare Konfrontationen"
Nun, bei einer hypermediatisierten Pressekonferenz in Paris, hat Macron die Samthandschuhe ausgezogen. Beim Brexit und bei der Klimapolitik sei er mit Merkel nicht auf einer Linie, räumte er ungewöhnlich offen ein. Auch bei der Handelspolitik gebe es Meinungsunterschiede. Macron sprach von "fruchtbaren Konfrontationen", an deren Ende immer der Wille zu einem Kompromiss stehe.
Von einem offenen Bruch mit Merkel kann demnach noch keine Rede sein. Aber die nächste "fruchtbare Konfrontation" zeichnet sich schon ab - bei der Besetzung der frei werdenden Chefposten in der EU.
Dabei geht es nicht nur um Juncker und um Merkels Spitzenkandidaten für die Europawahl Manfred Weber (CSU), der gerne die Führung der EU-Kommission übernehmen würde. Es geht auch um den Ratspräsidenten und den EZB-Chef - für Donald Tusk und Mario Draghi werden im Herbst ebenfalls Nachfolger gesucht.
Beim EU-Sondergipfel Ende Mai könnte der Franzose nun versuchen, Weber abzublocken und alternative Kandidaten - etwa Brexit-Verhandlungsführer Michel Barnier oder EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager - ins Spiel zu bringen. Macron will sich als Königsmacher präsentieren und dabei zur Not auch Krach mit Merkel riskieren.
Zwei neue französische Einschätzungen
Hinter dieser konfliktorientierten Strategie stecken, wenn nicht alles täuscht, zwei neue französische Einschätzungen. Merkel ist geschwächt und wird sich womöglich nicht mehr lange halten, lautet die erste Einschätzung. Macron dürfte zu diesem Schluss gekommen sein, als nicht die Kanzlerin, sondern CDU-Chefin AKK auf seinen Brief an die EU-Bürger zur Europawahl antwortete.
Dass AKK dabei keinerlei Zugeständnisse machte, von Frankreich aber den Verzicht auf den EU-Parlamentsstandort Straßburg sowie auf den ständigen Sitz im UNO-Sicherheitsrat forderte, dürfte Macrons Laune nicht gerade gesteigert haben. Im Gegenteil: Seitdem geht er immer offener auf Konfrontationskurs, vor allem gegen die CDU.
Die zweite französische Neuorientierung betrifft die deutsche Wirtschaft. Sie ist Ende 2018 nur knapp an einer Rezession vorbeigeschrammt und taugt seither nicht mehr als "Konjunkturlokomotive", auf die sich die europäischen Partner - auch Frankreich - verlassen können.
Doch statt aktiv gegenzusteuern, verlegen sich Merkel und ihr SPD-Finanzminister Olaf Scholz auf defensive Maßnahmen - wie die Handelsgespräche mit den USA. Sie wollen die drohenden US-Strafzölle auf deutsche Autoexporte abwenden und übergehen dabei Frankreich, das die transatlantischen Verhandlungen entschieden ablehnt.
Die deutsche Wirtschaft
Auch das birgt erhebliches Konfliktpotential. Denn auch wenn die Verhandlungen mit den USA demnächst beginnen: Am Ende muss Frankreich zustimmen, wenn es ein Ergebnis geben soll. Die deutsche Wirtschaft ist deshalb nicht nur auf Gedeih und Verderb dem Gutdünken von US-Präsident Donald Trump ausgeliefert. Auch Macron hat ein wichtiges Wörtchen mitzureden.
Allerdings hat sich nicht nur die französische Wahrnehmung von Deutschland geändert. Auch Macron und Frankreich erscheinen heute in einem anderen - schlechteren - Licht. Der Staatspräsident, der sich zu Beginn seiner Amtszeit noch als allmächtiger Sonnenkönig oder "Jupiter" präsentierte, ist durch die anhaltenden Proteste der Gelbwesten innenpolitisch geschwächt. Und auf EU-Ebene erscheint er zunehmend isoliert.
Die "Hanseatische Liga"
Von Macrons Reformvorstößen ist fast nichts übriggeblieben. Das liegt nicht nur an Deutschland, sondern auch an den Niederlanden und anderen wirtschaftsliberalen EU-Staaten. Sie haben sich in der neuen "Hanseatischen Liga" zusammengeschlossen, um die französischen Wünsche abzublocken und den neoliberalen EU-Kurs zu verteidigen.
Ihr Wortführer ist Mark Rutte, der Regierungschef der Niederländer. Er arbeitet vertrauensvoll mit Merkel und Scholz zusammen. Rutte ist aber auch mit Macron verbunden - über eine lockere Wahlallianz der Liberalen.
All dies ergibt eine komplizierte, aber auch explosive Gemengelage für die Zeit nach der Europawahl. Klar ist nur eins: Deutschland und Frankreich gehen nicht geeint, sondern tief zerstritten in die nächsten Monate. Wie der deutsch-französische Machtkampf ausgeht, ist noch nicht abzusehen. Denn bisher steht ja nicht einmal fest, ob sich Merkel noch bis zum Sommer im Kanzleramt hält.
Sollte die Kanzlerin vorzeitig von AKK abgelöst werden, so werden Macron, aber auch Rutte und andere Staats- und Regierungschefs versuchen, aus der neuen Lage Kapital zu schlagen. Die Europawahl wird dann endgültig zur Kulisse verkommen. Die Wähler können, wenn nicht alles täuscht, den Machtkampf in der EU nur verzögern oder beschleunigen - entscheiden können sie ihn nicht. mail@ericbonse.eu