Märchenhafter Fund in der Einhornhöhle

Seite 2: Einhornhöhle

Gefunden wurde der nur sechs Zentimeter lange Fußknochen in der Einhornhöhle, einem touristischen Highlight im Südwestharz. Die fast 700 Meter lange Höhle verdankt ihren Namen der Vielzahl von Fossilien ausgestorbener Tiere.

Schon im Mittelalter wurde sie von geschäftstüchtigen Heilern aufgesucht, die ihre zermahlenen Fundstücke als magische Medizin aus "Einhornknochen" anboten.

Sie war so bekannt, dass über die Jahrhunderte Gelehrte wie Gottfried Wilhelm Leibniz, Johann Wolfgang von Goethe oder Rudolf Virchow darin nach Überresten der Eiszeit forschten. Leibniz setze aus den fossilen Knochen verschiedener Tiere ein vermeintliches Einhorn zusammen ("Unicornu verum"), dadurch wurde das Fabeltier ab 1749 zum Namensgeber für die Höhle, die bis dahin Zwergenlöcher genannt wurde.

Hinterlassenschaften früher Menschen, Werkzeuge der Altsteinzeit, fanden sich erst ab Mitte der 1980er-Jahre. 130.000 Jahre lang fanden hier immer wieder Neandertaler Unterschlupf in dem Felsmassiv.

Die Ausgrabungen im verstürzten Eingangsbereich der Höhle im Jahr 2019. Gut erkennbar sind die teilerodierte Südwand und die gut erhaltenen Nordwand, während das Höhlendach verstürzt ist. Der verzierte Knochen fand sich in Erdschichten unter der Nordwand. Bild: ©NLD /J. Lehmann

In den letzten Jahren graben Archäologen erneut, unter anderem im Bereich eines ehemaligen eingestürzten Höhlenzugangs (Video des Niedersächsischen Landesamts für Denkmalpflege: Ralf Nielbock und Dirk Leder stellen die Einhornhöhle bei Scharzfeld im Harz vor).

Neben einer Vielzahl von anderen Tierknochen fanden die Ausgräber an dieser Fundstelle vor 15 Monaten ein auf den ersten Blick unscheinbares Fußknöchelchen unter aufeinander geschichteten Fossilien eines Höhlenbären. Als es gesäubert war, offenbarte sich darauf ein winkelartiges Muster aus sechs Kerben.

Wir erkannten rasch, dass es sich nicht um Schlachtspuren, sondern eindeutig um eine Verzierung handeln muss. Der Knochen wurde in mehreren Schritten planmäßig bearbeitet, aus einzelnen Kerben bewusst ein Winkelmuster konstruiert.

Grabungsleiter Dirk Leder

Die eingearbeiteten Ritzungen wurden an der Universität Göttingen mit 3D-Mikroskopie genau analysiert (Video: 3-D des verzierten Fußknochens). Es zeigte sich, dass die Linien nicht nur durch gelangweiltes, ungezieltes Rumschnitzen oder Kratzen mit einem Steinmesser entstanden sein können. Dazu sind sie zu aufwendig, zu akkurat und zu tief eingekerbt.

Ein kleiner Knochen vom Riesenhirsch

Die Forscher verglichen den Fußknochen mit Fossilien von verschiedenen Tieren der Eiszeit und konnten ihn einem Riesenhirsch (Megaloceros giganteus) zuordnen. Diese majestätischen Hirsche mit einer Schulterhöhe von zwei Metern und einer Geweihspannbreite von bis zu vier Metern waren eher selten und gehörten nicht zur alltäglichen Jagdbeute.

Teammitglied Antje Schwalb von der Technischen Universität Braunschweig erklärt:

Es dürfte kein Zufall sein, dass der Neandertaler den Knochen eines eindrucksvollen Tieres mit riesigen Geweihschaufeln für seine Schnitzerei ausgewählt hat.

Wenn der Steinzeit-Schnitzer das mehrfache Winkelmuster bewusst und geplant angelegt hat, dann kostete ihn das dereinst viel Zeit.

Die Expertengruppe experimentierte mit Knochen heutiger Rinder, um nachzuvollziehen, wie der er vorgegangen sein könnte. Dabei erwies sich, dass das Fußknöchelchen wohl zunächst gekocht wurde, um es weicher zu machen. Anschließend dauerte es etwa 1,5 Stunden, um mit einem Feuersteingerät nach und nach, Linie um Linie, sorgfältig das exakte Muster in die Knochenoberfläche zu schneiden.

MicroCT-Scan mit Markierung der Einkerbungen. Rot markiert sind die sechs Kerben, die das Winkelmuster erzeugen, blau markiert sind begleitende Kerben. Bild: ©NLD / A. Tröller-Reimer/D. Leder

Die Datierung des Fundes übernahm das Leibniz Labor der Universität Kiel mittels der Radiokarbonmethode, die auf dem Zerfall eines bestimmten Kohlenstoffisotops C-14 beruht. Eine winzige Probe ergab ein Alter von 51.000 Jahren. Damit entstand das verzierte Stück eindeutig vor der Ankunft des Homo sapiens in der Region.

Projektleiter Thomas Terberger sagt:

Das hohe Alter des Neufundes aus der Einhornhöhle zeigt nun, dass der Neandertaler bereits Jahrtausende vor der Ankunft des modernen Menschen in Europa in der Lage war, Muster auf Knochen selbstständig herzustellen und wohl auch mit Symbolen zu kommunizieren. Dies spricht für eine eigenständige Entwicklung der kreativen Schaffenskraft des Neandertalers.

Eine systematisch und absichtsvoll verziertes Objekt ohne praktischen Nutzen kann als ein kleines Kunstwerk betrachtet werden. Auf jeden Fall hat es eine ganz eigene ästhetische Qualität. Seine Existenz spricht als weiterer wissenschaftlicher Beleg für die kognitiven Fähigkeiten der Neandertaler, für abstraktes Denken und symbolisches Handeln.

Die Forschergruppe schreibt:

Die kognitive Fähigkeit zu kreativen Ausdrucksformen und sozialem Verhalten bei frühen Homo sapiens ist seit langem anerkannt. Im Gegensatz dazu ist der Nachweis für symbolisches Verhalten bei frühen Homininen und Neandertalern weitaus schwieriger nachzuweisen, und die Unabhängigkeit von Homo sapiens ist oft bestritten worden. Der gravierte Knochen aus der Einhornhöhle unterstützt die Vorstellung von symbolischem Verhalten unter Neandertalern vor der Ankunft von Homo sapiens in Mitteleuropa. Der kulturelle Einfluss von Homo sapiens als einziger Erklärungsfaktor für abstrakte kulturelle Ausdrucksformen bei Neandertalern kann nicht mehr aufrechterhalten werden.