Maletzke ohne doppelten Boden

Massenmedien und Feedback-Schleifen - Reflektion eines ZEIT-Onlineartikels

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Welche Auswirkungen können digitale Kommunikationsformen auf den Recherchevorgang eines Artikels haben? Ein Chat-Interview mit dem Autoren Thomas Hettche zu seiner Textpartitur "Inkubation" zeigt als Nebenaspekt die neue Rolle des Journalisten in Online-Medien.

Ist "ABCDEFG" wirklich Hettche? Um ohne großen Reiseaufwand oder ermüdenden postalischen Umweg zu einem ZEIT-Artikel Material über den Literaten Thomas Hettche und sein Verhältnis zu Hypertexten zu erhalten, wurde mit ihm ein Termin in einem öffentlichen Chatroom vereinbart. Aber so einfach funktionieren sich diese Server nicht für die eigenen Zwecke um. Die üblichen Verwechslungen und Verdrehungen durch Connect-Zeiten und sich überlagernde Redebeiträge im Chat sind dabei nichts besonderes. Aber ist der Gegenüber wirklich der richtige, ist es überhaupt ein Mensch? Sollen andere im Chat Zuschauer, Fragende, Schiedsrichter oder nur Staffage sein? Das Protokoll liegt unter der URL www.pegasus98.de/magazin/hettchat.htm vor.

Wer schon einmal versucht hat, im wirren Durcheinander der digitalen Brabbeleien und Oralerotiken ein komplexeres Thema anzureißen und mit einem Chatter durchzudiskutieren, weiß um die Schwierigkeit, dieses Medium wirklich für Kommunikation zu nutzen. Nehmen sich aber Gesprächsparteien in einem professionellen Umfeld vor, diese digitale Plapperhallen zu einem virtuellen Café und einem essentiellen Interview zu nutzen, verstoßen sie gleich mehrmals gegen Regeln, die ihre eigene Rolle in Frage stellen.

Regel 1: Frager und Befragter reden in elitärer Abgeschlossenheit miteinander
Verstoß: Chats sind offen in Echtzeit.

Der exklusive Charakter eines Interviews bricht hier auseinander, denn andere Chatter können sich jederzeit als Zuschauer, Befürworter, Störer und als "echte", "wahre" oder "gestellte" Interviewgäste einklinken. Sie können ein angekündigtes Interview sogar vorab ohne Möglichkeit der Verifikation führen, bevor sich die eigentlichen Protagonisten online einklinken. Die Besonderheit in ihrer Rolle liegt darin, daß sie nur durch eigene Artikulation Anwesenheit signalisieren können. Ein bloßes Zusehen befördert sie aus dem Chatserver, da sie einen zu langen Timeout erzeugen und dadurch bei vielen Chats automatisch deconnected werden. Ihre Redebeiträge sind weder kontrollierbar, noch sind sie analog zu Studiogästen in Lautstärke und Länge zu regeln. Sie sind sogar deshalb notwendig, um weiterhin purer Gast sein zu können. Und in einem öffentlichen Chat verbietet sich Abgeschlossenheit, denn das Inneinanderreden in einen Textstrang ist die Eigenart dieses Mediums, kein störendes Beiwerk.

Regel 2: Der Fragende ist Gatekeeper.
Verstoß: Der Sysop ist der Gatekeeper

Schon allein die Möglichkeit, durch Cheats und Super-User-Rechte, den eigentlichen Interviewer aus dem Chat-Room zu kicken oder dem Interviewten die eigene Meinung zuzuwispern, nivelliert die ursprüngliche Rolle des Journalisten zu dem eines verzweifelt bemühten Moderator. Und der hat alle Hände voll zu tun, in einem intakten Chat sein Interview zu führen und dabei nicht von Interessen einer bereits oder plötzlich agierenden Mehrheit aus dem Kanal gedrängt zu werden. Der Kanal besitzt keine Hoheitrechte mehr.

Ähnlich einer Fußgängerzone im wirklichen Leben existiert kein "Rechts vor Links" mehr.

Regel 3: (Schein-)intime Interviews gelten als das Non-plus-Ultra an Authentizität
Verstoß: Intimität hat keine Ausschlußinstrumente, um sich selbst zu schaffen.

In einem Chat-Room, der mit scheinbarer Intimität und dem Versteckspiel der eigenen Identität spielt, ist die Inszenierung einer "Nähe" nur noch dann möglich, wenn die Zahl der Chater auf 2 gesunken ist. Dann ist der Chat aber nicht mehr öffentlich. Alle anderen Versuche, als Frager dem Befragten näher zu sein als ein anderer Chatter, sind unendlich schwieriger als in einem optisch signalisierbaren Raum eines A/V-Interviews oder einer abgedruckten Version, die von Einwürfen und Fehlleistungen gereinigt werden kann (Siehe Spiegel-Interviews). Jederzeit kann durch Nachahmung in die Intimität eingebrochen werden. Jeder der Anwesenden kann wispern, mailen oder direkt im Kanal ansprechen.

Regel 4: Die Einmaligkeit eines Interviews entsteht durch die Spontanität der Unterhaltung
Verstoß: Es gibt keine Verifikation dieser Spontaneität mehr.

Eine Einmaligkeit mag vorhanden sein, aber sie ist nur schwer belegbar. Es sind Interview-Szenarien denkbar, die durch reines Copy & Pasten in unendlichen vielen Chat-Räumen von Dritten wiederholt werden und somit einer Inszenierung gleichkommen. Der Einsatz einer Fragemaschine wie der von ELIZA wäre ebenso denkbar. Letztendlich kann keiner der Beteiligten belegen und/oder sicherstellen, daß er/sie durch einen Menschen befragt wird. Es ist durch die dynamische, aber letztendlich anonyme Schriftform denkbar, daß entweder beide Interviewpartner sich unbemerkt inszenieren, daß einer dem anderen seine Inszenierung durch Vertretung entgegenhält. Selbst Livekameras sind kein Beleg für das Interview. Es sei denn, die Form würde ad absurdum geführt und durch ein bloßes Nebeneinandersitzen hin zu einem Terminal zerstört.

Regel 5: Formale Verknappung erzeugt Spannungsbögen im Gespräch.
Quantitätsprobleme kennt in Chat-Interview nicht mehr.

Ein Chat ist die mediale Form mit den geringsten Zwängen in Bezug auf Sende- oder Printplatzmangel. Ein Chat-Interview kann sich vollkommen entgrenzen und wie eine Performance durch andere Interviewer und Interviewte theoretisch wie ein Kettenbrief weitergeführt werden. Für ein Endlosinterview sind weder in den elektronischen, noch in den klassischen Printmedien Äquivalente vorhanden.

Das soll nicht heißen, daß digitale Medien nun eine vollkommen neue Form an Interview in die Welt setzen, die die mediale Massenkommunikation aus den Angeln hebt. In jeder der bereits praktizierten Interviewformen sind Teile dieser Umdrehungen repräsentiert. Fernsehstudios können nicht erst seit "Einspruch" zum brodelnden Interaktionskessel werden, Print-Interviews sind in ihrer "Echtheit" nicht wirklich für den Leser zu interviewen, Fantasie-Interviews für Hörfunk-Comedy bauen schnell virtuelle Gespräche mit Statements zusammen, die nicht einmal der Bundeskanzler über die Lippen brächte. Maletzke hat in seinem Modell der Massenkommunikation allerdings Feedback als entscheidende Komponente eingeführt.

Medien stehen danach in einem ständigen Koppelungsprozeß mit den Rezipienten. Dieses Modell versagt hier. Denn Feedback dieser Art benötigt eine klare Rollentrennung zwischen Beobachter und Beobachteten. Teilnehmer eines Chats agieren und reagieren in einem homogenen Maß. Sie lösen damit, soll ein Chat zum temporären Medium für Massenkommunikation genutzt werden, die Rollenverteilung auf und erübrigen Maletzke. Dem verknappten Rohstoff der Aufmerksamkeit eines Befragten steht nun nicht einmal mehr die Filterfunktion von Feedback durch einen Befrager entgegen. Was in den klassischen A/V-Medien schon in einer "Studiogäste"-Situation angelegt wird, ist digital restlos zum prägenden Element geworden. Bliebe man in der Metapher einer "Gästesituation", gleichen solche Chat-Interviews dem Verhalten von zwei ungeladenen Gästen, die in eine Party einbrechen, sich zu den dortigen Gästen stellen und eine überlaute Unterhaltung in der Hoffnung beginnen, damit so viel Aufmerksamkeit zu erringen, daß ihre Kommunikation gehört, aber nicht gestört wird. Was im reellen Leben als unfriendly Act begriffen werden würde, ist aber digital nicht minder aggressiv.

Den Usern eines in dieser Art mißbrauchten Chatrooms bleiben dann drei Strategien, um auf diesen planmäßigen Mißbrauch als Publikum zu reagieren. Man ignoriert den Kaperungsversuch, man stört ihn intensiv oder man verlagert seine Aufmerksamkeit auf einen anderen Chatroom. Dem Interview mit Thomas Hettche folgten nur im ersten Drittel Menschen, dann bestand der Chatroom aus zwei Menschen. Das Thema Hypertext und Literarizität erdrückte den sonst üblichen locker unverbindlichen Chat-Ton.

Es wäre nicht uninteressant zu sehen, wie Frau Christiansen reagierte, würden Ihr nicht nur die Zuschauer vor den Fernsehern, sondern auch die im Studio mitten in der Sendung einfach davonlaufen ...