"Man greift sich einige heraus, um alle abzuschrecken"
Seite 2: "Die progressivste Regierung der spanischen Geschichte"
- "Man greift sich einige heraus, um alle abzuschrecken"
- "Die progressivste Regierung der spanischen Geschichte"
- Auf einer Seite lesen
Wie ordnen Sie als Politologin die anhaltende Repression in den aktuellen politischen Kontext ein? Wir haben nun in Spanien eine Minderheitsregierung aus Sozialdemokraten und der Linkskoalition "Unidas Podemos", die für alle wichtigen Fragen, wie zum Beispiel den Haushalt auf Stimmen der ERC angewiesen ist, deren Generalsekretärin lebt im Exil und der ERC-Chef sitzt sogar weiter im Gefängnis, obwohl der Europäische Gerichtshof geurteilt hat, dass Oriol Junqueras Immunität genießt.
Tània Verge: Die Regierung bezeichnet sich selbst als progressivste Regierung der spanischen Geschichte, was natürlich aus verschiedenen Gründen stark zu bezweifeln ist. Das ergibt sich schon aus ihrer Zusammensetzung, wenn wir darin zum Beispiel einen Innenminister Grande-Marlaska finden. In mehreren Fällen, in denen er der ermittelnde Richter war, wurde Spanien vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte dafür verurteilt, dass gegen Folterer nicht ermittelt wurde.
Genial, einen Minister zu haben, der gegen Folter nicht ermittelt. So ähnlich ist das auch bei der Wirtschaftsministerin, die sich politisch in der Europäischen Union sozialisiert und die neoliberale Austeritätspolitik verinnerlicht hat. Wenn das also die progressivste Regierung der Geschichte ist, sagt das viel darüber aus, wie Spanien sich selbst sieht.
Es stimmt zwar, dass die Repression noch unter der Regierung der rechten Volkspartei (PP) gestartet wurde, doch sie wurde von Beginn an von den Sozialdemokraten unterstützt. Die Verfahren wurden alle mitgetragen, auch die Strafverschärfungen, die ad hoc vorgenommen wurden. Auch sie haben für die Reform gestimmt, um das Verfassungsgericht zu reformieren.
Somit kann das Verfassungsgericht seine eigenen Urteile durchsetzen. Das sieht man in den angedrohten Geldstrafen gegen uns. Das Verfassungsgericht verhängt und setzt sie durch, dabei sollte es das letzte Gericht sein, bei dem Urteile angefochten werden können. Da werden fundamentale Rechte ausgehebelt, denn es gibt keine zweite Instanz mehr für einen Widerspruch.
In den Prozessen könnte sich die Staatsanwaltschaft nach der Ermittlungsphase anders verhalten. In unserem Fall, wie in vielen anderen, wurden aber die Anschuldigungen und die Strafforderungen aufrechterhalten, obwohl die Regierung gewechselt hat. Diese Koalitionsregierung hat ein großes Problem.
In der sozialdemokratischen Partei tragen viele Kader und auch viele Menschen an der Basis viele einen anderen Umgang mit Katalonien nicht mit. Dazu kommt eine brutale Kampagne der rechten Parteien und der ultrarechten Vox, die diese Regierung stürzen wollen.
Die Politisierung der Justiz
Glauben Sie, dass die Regierung über ihr Ministerium für Staatsanwaltschaft deshalb sogar Widerspruch gegen einen Freispruch wie im Fall von Tamara Carrasco einlegt und auch den teilweisen Freigang der politischen Gefangenen wieder rückgängig gemacht hat?
Tània Verge: Es stimmt, ich habe darauf nur teilweise geantwortet. Denn die Frage ist tatsächlich, warum sie auf der einen Seite nicht für Entspannung sorgen, sondern die Lage sogar weiter zuspitzen. Natürlich können wir hier über die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft diskutieren. Klar ist aber, dass die Generalstaatsanwältin nach dem Regierungswechsel vom Regierungschef ernannt wurde. Und klar ist aber auch, dass die Regierung sie nicht auf allen Ebenen kontrolliert.
Es war aber Ministerpräsident Pedro Sánchez selbst, der im Interview mit der Kontrolle über die Staatsanwaltschaft geprahlt hat. Es passt danach nicht mehr, wenn er erklärt, seine Regierung könne nichts tun, weil die Justiz unabhängig sei.
Wir haben es hier insgesamt mit einem tiefgreifenden Problem zu tun: die Politisierung der Justiz unter anderem darüber, wie Richter auf ihre Posten kommen. In Spanien macht die PP in etwa das, was auch Donald Trump in den USA macht: Die Erneuerung der Justizorgane wird verhindert, um die Mehrheitsverhältnisse nicht zu verändern. Das ist absolut undemokratisch, denn diese Erneuerung muss periodisch erfolgen, egal wer gerade regiert. Und dabei spielen die Mehrheiten in den beiden Parlamentskammern eine Rolle.
Als weiteres Element haben wir den sakrosankten Übergang von der Diktatur in die Demokratie. Vielleicht war damals nicht viel mehr möglich, aber auch 40 Jahre später gab es keine Säuberung in zentralen Institutionen des Staates, wie der Justiz, der Polizei oder der Armee.
Es gibt auch in Justiz einen franquistischen Bodensatz, der sich in all den Verfahren hier zeigt. Sogar wenn die Koalitionsregierung jetzt zu einer Amnestie greifen würde, zu Begnadigungen oder anderen Formeln, gibt es keine Garantie, dass das letztlich auch umgesetzt werden kann. Bestimmte Institutionen haben ein Eigenleben entwickelt und sie stützen sich auf autoritäre Vorstellungen.
Im Februar finden in Katalonien Wahlen statt, da Präsident Torra kürzlich wegen einer Bagatelle aus dem Amt geworfen wurde. Wie ist Ihre Prognose? Wird die Unabhängigkeitsbewegung die 50%-Marke bei den Stimmen überschreiten, wird die ERC zur stärksten Kraft, wie sie sich das seit vielen Jahren erhofft?
Tània Verge: Das ist für uns Politologen immer die schwierigste Frage und ich beantworte sie eigentlich nicht, da mir dazu die nötige Kristallkugel fehlt. Es fehlen noch einige Monate und die Umfragen geben nur ein sehr vages Bild. Nach dem, was daraus bisher zu beobachten ist, gibt es beiden Blöcken, also der Unabhängigkeitsbewegung auf der einen und dem Unionismus auf der anderen Seite, nur wenig Bewegung.
Es ist aber möglich, dass die drei Unabhängigkeitsparteien erstmals mehr als die Hälfte aller Stimmen hinter sich bringen. Es wird aber in den Blöcken Veränderungen geben. Die ERC könnte erstmals stärkste Kraft werden, das wird sich aber erst im letzten Moment zeigen.
Im Block der Unionisten stürzen die Ciudadanos zu Gunsten der Sozialdemokraten, PP und leider auch in Richtung der ultrarechten Vox ab, wie sich schon bei den letzten Parlamentswahlen im spanischen Staat gezeigt hat. Es könnte also sein, dass Vox auch ins katalanische Parlament einzieht. Das wäre meiner Meinung nach eine sehr schlechte Nachricht.
Der Streit der Unabhängigkeitsparteien
Werden die Unabhängigkeitsparteien ihren Streit untereinander beilegen und sich wieder auf einen gemeinsamen Weg in Richtung der Unabhängigkeit machen oder ihren Richtungsstreit fortsetzen?
Tània Verge: Klar ist, dass sie sich gegenseitig brauchen, um regieren zu können. Die Frage wird dabei vor allem sein, ob auch die linksradikale CUP in die Regierungskoalition eintritt oder ob es nur eine ähnliche Konstellation wie bisher mit veränderten Kräfteverhältnissen geben wird. Eine andere Alternative sehe ich nicht. Ob sich die drei Parteien auf eine gemeinsame Strategie darüber hinaus einigen können, um in Richtung Unabhängigkeit voran zu kommen, steht allerdings auf einem ganz anderen Blatt.
Ich glaube, dass sich zunächst der Raum, den die katalanische Christdemokratie einst gefüllt hat, neu stabilisieren und strukturieren muss. Derzeit ist der in drei verschiedene Lager aufgesplittert. Damit ist es sehr schwierig, sich auf einen Fahrplan zu einigen, solange sogar auch die drei Formationen untereinander uneinig sind. Bisher ist unklar, welche Strömung sich in diesem Lager durchsetzen wird.