Man(n) oder Frau oder Trans?

"Wir wollten auf gar keinen Fall dieses Muster bedienen, das es in dieser Diskussion häufig gibt: älterer weißer Mann gegen jüngere weiße Frau." Bild: RyanMcGuire/ CC0

Der Duden und Gendern in der Sprache. Spricht das generische Maskulinum tatsächlich alle Menschen, alle Geschlechter an?

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Sprache ist lebendig. Manchen Menschen zu lebendig. Sie sperren sich gegen Veränderungen. So polarisiert derzeit das Thema der Geschlechtsidentität in der Sprache wie kaum ein anderer Aspekt. Die Frage stellt sich jedoch: Spricht das generische Maskulinum tatsächlich alle Menschen, alle Geschlechter an? Männer, Frauen, Transgender?

In der Dudenredaktion wird dieses Thema kontrovers diskutiert - die aktuelle Buchveröffentlichung Gendern?! präsentiert zwei Meinungen zum Thema: Pro und Kontra. Der gemeinsame Nenner ist: Gendern in der Sprache soll ein erhöhtes Sprachgefühl für die feinen Unterschiede schaffen, zudem in der Sprache ein Gleichberechtigungsgefühl einführen.

Die Redaktionsleiterin des Dudens, Frau Dr. Kathrin Kunkel-Razum, stand kurz vor der Sitzung des Rats für deutsche Rechtschreibung u.a. zu diesem Thema Telepolis am Telefon Rede und Antwort.

Warum polarisiert "Gendern in der Sprache" so?
Kathrin Kunkel-Razum: Das ist letztlich eine Machtfrage, glaube ich. Manche Teile der Bevölkerung müssen in diesem Punkt etwas Macht abgeben. Das machen sie vielleicht nicht so gerne. Das ist der eine Aspekt, sprich: Männer.
Und der andere Aspekt?
Kathrin Kunkel-Razum: Der andere Aspekt ist, dass da Ungewohntes auf uns zukommt. Das haben wir auch schon in anderen Zusammenhängen gesehen, zum Beispiel in der Rechtschreibreform: Wenn es an die Sprache geht und wenn da Veränderungen bewusst eingeführt werden sollen - also nicht die schleichenden, die wir sowieso jeden Tag haben -, dann ist es für viele Menschen nicht einfach, das zu akzeptieren. Sie spüren, da zwingt ihnen jetzt jemand etwas auf oder da müssen sie jetzt umlernen. Sprache scheint ihnen sonst völlig sicher und vertraut. Das bringt eine ganze Reihe an Unsicherheiten mit sich.

Irritierendes Anspruchsdenken gegen Veränderungen

In diesem Kontext wird häufig der Begriff "natürlich" gebraucht - eine Sprache sei quasi natürlich gewachsen, wobei man da die ständigen, historisch bedingten Änderungen missachtet. "Natürlich" bedeutet: darf nicht geändert werden!
Kathrin Kunkel-Razum: Das irritiert mich schon öfter, dass es da dieses Anspruchsdenken oder diese Haltung gibt, es darf sich zwar alles ändern, es ändert sich auch alles, aber die Sprache muss bitte so bleiben, wie sie schon immer gewesen ist. Das ist noch nie der Fall in der Geschichte gewesen, und das wird schätzungsweise auch nie so sein. Sprache ist ja so eng mit unserem Denken, unserer Entwicklung, unserer gesellschaftlichen Entwicklung verbunden, dass es gar nicht anders geht, als dass sie sich verändert.
Es kann natürlich unterschieden werden zwischen innersprachlichen Einflüssen, die sich dann zum Beispiel in der Grammatik zeigen, und außersprachlichen Einflüssen, wie sie sich zum Beispiel in der Bildung neuer Wörter oder Übernahmen aus Fremdsprachen manifestieren. Aber Sprache hat sich immer entwickelt und wird sich immer entwickeln. Das sollte man auch mit ein bisschen Gelassenheit sehen, finde ich.
Seit einiger Zeit gibt es im Dudenverlag einige Buchpublikationen, die in das Thema "Gendern in der Sprache" einführen. "Einfach gendern" soll als Buch nächstes Frühjahr erscheinen. Ich gehe davon aus, dass dieses Werk Empfehlungen ausspricht, wie man mit solch einem brisanten Thema umgehen kann?
Kathrin Kunkel-Razum: Das knüpft an den Titel an, den wir bereits letztes Jahr herausgebracht haben: "Richtig gendern", der auch ein Ratgeber ist. Der Anlass war, dass wir hier sehr viele Anfragen hatten von Menschen, die in Institutionen sitzen und die nicht genau wussten, wo gegendert werden soll und muss. Sie wussten irgendwann nicht mehr, wie sie das am besten machen sollten. Wir konnten diese ganzen Einzelanfragen irgendwann gar nicht mehr bearbeiten.
Wir dachten dann: Mensch, da gibt es offenbar ein Bedürfnis, Lösungen zu erhalten, und haben uns deshalb vor gut einem Jahr entschieden, diesen Ratgeber aufzulegen. Der neue Ratgeber, der im Frühjahr erscheinen wird, nimmt diese Idee wieder auf, ist aber noch ein bisschen einfacher gestrickt. Um es Leuten ganz plastisch vorzuführen, wie man es in bestimmten Texten am besten lösen kann.

Institutionen und privater Gebrauch

Für Institutionen ist das Gendern wichtig, um eine Art von Gleichberechtigung durchzusetzen, aber bei Individuen ist das sicher eine persönliche Angelegenheit? Ist das mit der Hoffnung verbunden, dass das mal zum Standard werden wird?
Kathrin Kunkel-Razum: In der Zeit gab es im Frühjahr die große Umfrage, wie Schriftsteller/-innen damit umgehen. Für Individuen ist das eine völlig andere Geschichte. In unseren Ratgebern geht es darum, wie eine Krankenkasse ihre Kund_innen anspricht, wie eine Imagebroschüre von einem bestimmten Haus gemacht wird. Das ist aber etwas anderes.
In Bezug auf Individuen läuft dieser Gleichberechtigungsprozess sicher anders ab?
Kathrin Kunkel-Razum: Ich denke, dass da bei vielen individuell schon was passiert. Also gerade auch, wenn sie sich im Beruf damit beschäftigen: Die Selbstbezeichnung einer Frau mit einer männlichen Form wäre solch ein Fall. Ich würde mich schon seit vielen Jahrzehnten nicht mehr als Redakteur bezeichnen, sondern als Redakteurin. Also auch privat nicht.
Ich würde nicht sagen: Ich bin von der Ausbildung her Lehrer, sondern ich würde immer sagen: Ich bin Lehrerin. In solchen Formen schleift es sich vielleicht sogar im Privaten ein. Das kann sein. Aber es geht hier eher darum, die Aufmerksamkeit von Institutionen, aber auch von Firmen darauf zu lenken, wie sie ihre Kunden und Kundinnen ansprechen. Das Beispiel, das wir dieses Frühjahr hatten: die Klage vor dem Bundesgerichtshof …
Sie reden von dieser Sparkasse?
Kathrin Kunkel-Razum: Ja, genau. Diese Sparkasse war einfach schlecht beraten. Die hätten einfach ihr Formular in "Kunde/Kundin" umwandeln können. Das ist doch heute nicht mehr schwierig. Das wäre kein großer Aufwand gewesen. Ich vermute, dass die einige Kundinnen haben, und sie wären damit denen entgegengekommen. Es ist nicht immer der große Aufwand, der dahintersteht, um zu zeigen: Ja, ihr seid mir auch wichtig!
Die Sparkasse hat wahrscheinlich mit dem generischen Maskulinum argumentiert. Dass damit alle bereits angesprochen seien!
Kathrin Kunkel-Razum: Genau.
Oder die Konfrontation dieser Kundin Marlies Krämer, die eine altgediente Frauenrechtlerin von 81 Jahren ist, hat diesen Prozess noch angeheizt? Es ist bei dieser Gender-Debatte zu beobachten, dass manche Leute sehr emotional bis hin zu ausfällig werden.
Kathrin Kunkel-Razum: Das kann ich nur bestätigen. Diese Resonanz haben wir teilweise auch auf unsere Ratgeber erhalten. Man kann das Ganze natürlich neutraler formulieren; man kann auch von "geschlechtergerechtem Sprachgebrauch" sprechen, nur ist das wieder deutlich länger und umständlicher. Der Begriff "Gendern" hat sich inzwischen eben stark eingeprägt, weil er kürzer ist. Aber Sie haben völlig recht, das ist sehr emotional besetzt. Das ist auch unsere Erfahrung, die wir täglich machen.

"Wir wollen auch niemandem etwas überstülpen"

Erhalten Sie direkt an die Duden-Redaktion Kommentare?
Kathrin Kunkel-Razum: Es gab da Reflexionen und Reaktionen sehr unterschiedlicher Art. Der ehemalige Vorsitzende des Deutschen Lehrerverbandes hat auf der Seite des Vereins Deutsche Sprache ganz groß geschrieben: "Duden! Stampfen Sie dieses Machwerk ein!", bezogen auf unseren Ratgeber.
Es gab eine Postkartenaktion des Vereins Deutsche Sprache auf der Leipziger Buchmesse, die für mich geradewegs an Verleumdung gegrenzt hat, weil auf diesen Postkarten der Eindruck erweckt wurde, wir hätten so was wie "die Helikopterin" oder "Prostatapatientin" empfohlen, was wir natürlich nicht gemacht haben. Das ist völlig klar, das ist ja richtiger Schwachsinn.
Und bei den sozialen Medien?
Kathrin Kunkel-Razum: In den sozialen Medien gab es natürlich viele Reaktionen auf unsere Bücher. Auf Amazon bin ich bei vielen Rezensionen der Meinung, dass da sich viele Leute, die sich geäußert und Gift und Galle gespuckt haben, nicht mal die Mühe gemacht hatten, in das Buch zu gucken. Ich glaube schon, dass wir da sehr gemäßigt vorgehen. Wir wollen auch niemandem etwas überstülpen.

Der Duden und das Gendern

Vielleicht spielt in diesem Kontext der Name Duden noch eine Rolle? Da diese Publikationen von Duden kommen, fühlen sich die Leute quasi gezwungen, das zu befolgen.
Kathrin Kunkel-Razum: Das ist offensichtlich der Eindruck, der da entstanden ist. Das ist natürlich ein Aspekt, den diese Marke mit in sich trägt: dadurch, dass der Duden bis 1996 das Rechtschreib-Monopol hatte, entscheidend war in allen Zweifelsfällen der Rechtschreibung, was er jetzt gar nicht mehr ist, das Regelwerk wird ja nun vom Rat für deutsche Rechtschreibung vorgegeben.
Aber diese Instanz wirkt natürlich noch. Bei vielen Menschen ist tatsächlich der Eindruck entstanden, der Duden würde jetzt das Gendern verordnen. Das ist tatsächlich und definitiv und überhaupt nicht der Fall. Der Duden kann das nicht und der Duden will das nicht.
Sondern? Er möchte den Menschen, die sich jetzt mit dieser Art von Sprachgebrauch beschäftigen wollen oder müssen, eine Handreichung geben. Zudem eine Hilfestellung geben, denn es geht um Sprachfragen. Um solche Fragen kümmert sich eben der Duden.
Kathrin Kunkel-Razum: Ich finde, im aktuellen Buch "Gendern?!", das ein "Gespräch" zwischen den beiden Autorinnen Anne Wizorek und Hannah Lühmann ist, wird dieses Problem sehr ausführlich durchdekliniert. Dass durch die gesellschaftlichen Missstände in Sachen Gleichberechtigung noch viel Bedarf zur sprachlichen Aufklärung besteht. Auch neben der binären Struktur von Mann und Frau.
Bei diesem Titel ist uns wichtig gewesen, neben der konkreten Handreichung, die wir in den Ratgebern haben, tatsächlich das Problem, das hinter dem sprachlichen Gendern steht, einzuordnen. Und dabei wollten wir keinesfalls einseitig sein, sondern haben uns sehr genau überlegt, wie wir das machen könnte.
Wir wollten auf gar keinen Fall dieses Muster bedienen, das es in dieser Diskussion häufig gibt: älterer weißer Mann gegen jüngere weiße Frau. Es sollte auch nicht aus rein linguistischer Sicht erörtert werden. Wir wollten das etwas breiter gesellschaftlich fassen.
Das heißt?
Die Sprachoberfläche ist ja wirklich nur die Oberfläche. Da stecken gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen dahinter. Deshalb haben wir zwei Frauen aus einer Altersgruppe genommen, sie sind beide in ihren Dreißigern und Publizistinnen, beide haben eine relativ vergleichbare Ausbildung.
Sie könnten ja rein theoretisch zu gleichen Schlussfolgerungen bei diesem Thema kommen, aber sie sind zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen gekommen. Das fanden wir so spannend an der Geschichte und deshalb haben wir dieses Buch in dieser Form gemacht.
Andererseits nennt zum Beispiel Anne Wizorek Theoretiker_innen wie Judith Butler oder Michel Foucault. Das ist schon ein akademischer Diskurs, der hier bedient wird. Da gebe ich Ihnen recht. Das ist sicher ein anspruchsvolles Buch.
Man muss sich schon darauf einlassen und vielleicht noch mal weiterlesen. In diesem Buch wird sicher ein akademischer Diskurs geführt. Da fällt mir aber eine Podiumsdiskussion an der Freien Universität Berlin ein.

Eine Entwicklung außerhalb des "Akademischen"

Kamen dort noch andere Perspektiven auf?
Kathrin Kunkel-Razum: Es ging um das große Thema: Was dürfen wir eigentlich noch sagen und wer bestimmt das? Da ging es zu einem großen Teil auch ums Gendern und da sagte Anatol Stefanowitsch, der noch eine andere Streitschrift bei uns über Political Correctness gemacht hat, auf die Frage, ob das nicht alles rein akademisch sei: Er glaube, es ginge vom akademischen Bereich aus, aber er meine auch, eine Entwicklung wahrzunehmen, die inzwischen doch unumkehrbar sei. Was auch immer das im Konkreten heißt. Es ist aber eben doch nicht nur im Akademischen angesiedelt.
Haben Sie da ein Beispiel?
Kathrin Kunkel-Razum: Ja. Wir haben neulich mit den Angestellten die Imagebroschüre eines kleineren Krankenhauses, in dem sie arbeiten, gegendert. Das befindet sich in einer kleinen Stadt in Nordrhein-Westfalen, die überhaupt keine Akademikerstadt ist.
In dieses Krankenhaus kommen also auch viele Menschen ohne akademische Bildung. Es war jedoch ein Anliegen der Leitung, jetzt doch noch mal deutlicher zu machen, wie die Realität ausschaut. In diesem Krankenhaus arbeiten eben deutlich mehr Frauen als Männer. Bisher war da nur von Mitarbeitern und Patienten die Rede.
Wie sind Sie vorgegangen?
Kathrin Kunkel-Razum: Wir haben uns das in aller Ruhe angeguckt und versucht, andere Formen zu finden, haben dann manchmal auch von Pflegekräften und Pflegenden gesprochen. Es gibt ja auch Ausweichformen. Ich glaube, das ist ein sehr schöner Text geworden, in dem wir aber auch mal das generische Maskulinum stehen gelassen haben, weil es nicht anders gegangen wäre oder weil der Text stilistisch sehr gelitten hätte.
Das hört sich nach einer behutsamen Aktion an.

"Ich würde gerne etwas von der Schärfe aus dieser Diskussion rausnehmen"

Kathrin Kunkel-Razum: Ich glaube, man muss in der Praxis nicht wirklich eifern. Ich würde gerne etwas von der Schärfe aus dieser Diskussion rausnehmen. Es ist wichtig, klarzumachen, dass wir das Problem sehen. Wir versuchen, uns diesem anzunähern und Lösungen zu finden, die so gut wie möglich, aber auch angemessen sind. Wir wollen nichts mit dem Holzhammer verordnen, was dann nachher nicht angenommen wird. Das bringt auch nicht weiter.
Es gab das Binnen-I, den Asterisk, den Unterstrich - es war schon immer Bewegung in dieser Sache und abgeschlossen ist der Prozess wohl nie?
Kathrin Kunkel-Razum: Da entstehen natürlich immer neue Fragen, die auch weit über die Rechtschreibung hinausgehen. Formal haben Sie natürlich recht, das Binnen-I gab es in den siebziger und achtziger Jahren schon. Dann ist es ein wenig ruhiger geworden und jetzt ist es wieder hochgekommen.
Dann gibt es die Alternativen, eben Schreibungen mit Unterstrich und Sternchen. Die aber auch etwas aussagen. Die sagen ganz klar: Im Unterschied zum Binnen-I gibt es das Bedürfnis gar nicht so sehr, Männer und Frauen zu betrachten, sondern eben auch alle Menschen, die sich nicht als Mann oder Frau, sondern als etwas anderes definieren. Die werden damit natürlich besser erfasst als mit dem Binnen-I. Es ist völlig klar, dass dieser Prozess nicht abgeschlossen sein kann. Wir geben da ja nichts vor, sondern gucken, was passiert!
Das geht also weiter?
Kathrin Kunkel-Razum: Klar. Vielleicht kommen wir eines Tages, nach zehn Jahren, nach einer sehr intensiven Diskussion zu dem Schluss: Wir wollen das generische Maskulinum und jetzt akzeptieren wir das. Dann haben wir das aber diskutiert.
Dann wird nicht so getan, als sei das schon immer völlig generisch gewesen. Das war es nicht. Das Ergebnis resultierte dann aus einem Diskussionsprozess, wohin auch immer uns diese Debatte führt. Dass die Diskussion irgendwann mal wieder ganz verschwinden wird, kann ich mir nicht mehr vorstellen. Dafür hat sie inzwischen doch zu viel Fahrt aufgenommen.
Bei rechtschreibschwachen Menschen merkt man das, wenn sie das generische Maskulinum nutzen und "Mann" dafür schreiben. Unbewusst denken sie an den Mann und die Männer, oder?
Kathrin Kunkel-Razum: Genau, das ist ein gutes Beispiel. Kann ich Ihnen nur zustimmen. …
Die starke Emotionalität hatten wir schon. Ich denke da noch an den Begriff "Gender Mainstreaming", der von gegnerischen Kreisen so verstanden wird, dass das Männliche und das Weibliche aufgelöst und vereinheitlicht werden sollen.
Kathrin Kunkel-Razum: Das Interessante dabei ist, dass "Gender Mainstreaming" zunächst ein reiner Fachbegriff gewesen ist, der außerhalb der Soziologie und später der Verwaltungswissenschaft keine Rolle gespielt hat, aber inzwischen durch das Thema Gendern aus der Fachsprache herausgeholt wurde.

Es lohnt sich, etwas genauer hinzugucken

Die Bewegung ist konträr: Auf der einen Seite die Angst vor einer Vereinheitlichung und Nivellierung der Geschlechter und auf der anderen Seite versuchen Sie aber, mit den Duden-Ratgebern den vorhandenen Missständen eine vielfältige Stimme zu geben.
Kathrin Kunkel-Razum: Im Prinzip ist es doch völlig verrückt, dass die Entwicklung so gegenläufig ist. Da wird gesagt: Es wird alles eins! Und auf der anderen Seite lohnt es sich, etwas genauer hinzugucken und die Differenzierung, die heute eben viel stärker gelebt wird, auch abzubilden. Das ist eigentlich das selbstverständlichste Ding der Welt: die Realität auch durch die Sprache abzubilden.

"Der alte weiße Mann"

Ich wollte nochmals auf den alten weißen Mann zurückkommen, der sich dagegen sträubt. Denken Sie denn, dass dies eine Generationenfrage ist?
Kathrin Kunkel-Razum: Bis vor einiger Zeit hätte ich mit Ja geantwortet. Da bin ich inzwischen tatsächlich etwas unsicherer, weil wir auf der IDS-Tagung - Institut für deutsche Sprache in Mannheim - zum Beispiel einen Bericht von WissenschaftlerInnen des IDS gehört haben: Die hatten auch junge Frauen in Bezug auf gesplittete Formen befragt und da kam heraus, dass die das generische Maskulinum in einem sehr hohen Maße akzeptierten.
Das fand ich persönlich erstmal erstaunlich. Nachher habe ich mir überlegt, dass es interessant wäre, genau diese Frauen später - in vielleicht zehn bis fünfzehn Jahren - nochmals zu befragen, wenn sie nämlich aus ihrem akademischen Kontext, aus dem sie kamen, tatsächlich raus sind.
Weil sich dann die Meinungen möglicherweise geändert haben?
Kathrin Kunkel-Razum: Genau. Wenn die Frauen in der Realität eines Familien- und Berufslebens stehen; wenn sie wirklich mit der noch existierenden Ungleichbehandlung konfrontiert werden. Da müsste man diese Frauen fragen, ob sie immer noch für die sprachliche Vereinheitlichung, sprich: das generische Maskulinum sind, oder ob sich ihre Einschätzung da wandelt. Das kann man heute natürlich noch nicht sagen. Es wäre sehr spannend, da nochmals drauf zu schauen.

Keine Empfehlung für ein bestimmtes Zeichen

Am Freitag, den 16. November hat der Rat für deutsche Rechtschreibung auch über das Gendern debattiert. Gibt es da Neues zu vermelden?
Kathrin Kunkel-Razum: Wir haben in Passau getagt und das geschlechtergerechte Schreiben war ein Punkt der Tagesordnung. Grund war, dass wir seit einiger Zeit eine Anfrage vom Berliner Senat vorliegen hatten. Auf der Frühjahrstagung in Wien hatten wir dann gesagt, dass wir uns dazu noch nicht äußern möchten, weil wir uns erstmal noch intensiver mit der Faktenlage beschäftigen wollen, also: mit Sprachbeobachtung. Was findet sich denn in den Texten?
Wir sehen da nun, dass sich in den Korpora zur deutschen Sprache zwar eine wachsende, absolut aber immer noch geringe Zahl von Schreibungen findet, die das dritte und alle weiteren Geschlechter mit einbeziehen, also Sternchen (Lehrer*innen) oder Unterstrich (Lehrer_innen). Das liegt aber auch an der Zusammensetzung der Korpora, die überwiegend aus Zeitungstexten bestehen.
Der Rat hat nun konstatiert, dass sich die Entwicklung in den Ländern, die er vertritt (Deutschland, Österreich, Schweiz, Liechtenstein, Belgien, Italien [Südtirol] und Luxemburg), in unterschiedlichem Tempo vollzieht, und er möchte deshalb derzeit keine Empfehlung für ein bestimmtes Zeichen aussprechen.
Wie sieht es denn bei unseren Nachbarn aus?
Kathrin Kunkel-Razum: In der Schweiz zum Beispiel wird seit zwanzig Jahren in offiziellen Texten gegendert. Das verläuft sehr unaufgeregt und die Schweizer Kollegen und Kolleginnen im Rat können eigentlich die Aufregung, die hier in Deutschland herrscht, gar nicht recht nachvollziehen, weil dort ist das längst Routine geworden.
Gab es dort auch politischen Widerstand?
Kathrin Kunkel-Razum: Es gab politische Diskussionen dort. Aber vielleicht hat die Schweiz da einen kleinen Vorsprung, weil sie bereits in so vielfältiger Weise mit verschiedenen Sprachen umgehen muss. Die Schweizer müssen sich sprachlichen Änderungen sowieso permanent unterwerfen, angefangen bei den vielen Staatssprachen.
Die Kolleginnen und Kollegen sagen: Es ist sehr nachvollziehbar, was wir machen. Es gibt diesen Leitfaden aus der Schweizer Staatskanzlei und den nimmt man, und da sucht man sich das Mittel heraus, das am besten passt. Dann wird das so gemacht. Es wird halt nicht emotional diskutiert.
Sie sprachen vorhin von einem Krankenhaus. Es gibt nach wie vor Orte, an denen besonders Frauen arbeiten. Vielleicht bringt das Gendern in der Sprache eine gewisse gesellschaftliche Veränderung?
Kathrin Kunkel-Razum: Das wird uns ja wieder zugänglich, wenn wir die Korpora zur deutschen Sprache untersuchen. In den kommenden Jahren werden wir verfolgen, in welchem Maße und in welchen Formen sich das entwickelt.
Es ist ein häufiges Argument der Gendergegner, dass es nicht so sehr auf die Sprache ankommt, sondern auf die Realität, dass zum Beispiel Frauen endlich das gleiche Gehalt erhalten sollten. Das ist natürlich richtig. Ich wäre die letzte, die diese Zusammenhänge abstritte.
Nun: Junge Frauen, die in die Kranken- und Altenpflege gehen, entsprechen schon irgendwie dem Stereotyp?
Kathrin Kunkel-Razum: Es wirken auch historische Prägungen daran mit, dass es zu solchen Berufsentscheidungen kommt. Es ist aber sehr spannend zu sehen, wie sehr sich die Dinge ändern, wenn man die Anteile der Studierenden anschaut.
Medizin zum Beispiel: Es war ja vor zwanzig, dreißig Jahren noch undenkbar, dass die Mehrheit der dort Studierenden weiblich ist. Es gibt sicher noch Bereiche, der Maschinenbau z.B., die Männerdomänen sind. Aber selbst in der Informatik ändert sich das.
Der richtige Weg ist also bereits eingeschlagen?
Kathrin Kunkel-Razum: Ich meine, es ist ja logisch, dass sich da einiges ändert. Wenn man nur mal das Zahlenverhältnis beim Abitur bedenkt: Mehr Mädchen als Jungen machen das Abitur. Vielleicht ist es wirklich so, dass Frauen erst das gleiche Gehalt wie Männer erhalten, wenn sie viele sind in dem jeweiligen Beruf und auch sprachlich sichtbar werden? Es wäre schön, wenn unsere Bücher einen Teil zu dieser Entwicklung beitragen könnten.