"Manche suchen Zuflucht in vereinfachten Weltbildern"

Seite 2: Grenzen der Vermessung der Welt und die Corona-Krise

Inwieweit hilft uns die Wahrnehmung der Welt weiter als die erfassende Beschreibung, eine humboldtsche Vermessung?

Fabian Scheidler: Wenn Sie sich entscheiden müssen, mit welchem Menschen Sie ihr Leben verbringen wollen, dann werden Sie nach Ihrer Wahrnehmung und ihren Gefühlen gehen, nicht nach den Körpermaßen und Blutwerten. Wenn Sie verstehen wollen, wie es Ihrem Kind geht, werden sie es ansehen.

Das Gleiche gilt für einen guten Arzt, der nicht nur Krankheiten und einzelne Organe behandelt, sondern den ganzen Menschen. Unsere Wahrnehmung verrät uns auch viel darüber, ob wir in einer gesunden oder kranken Umwelt leben. Unser Sinn für Schönheit und unsere Liebe zu anderen Lebewesen sind eine entscheidende Motivation dafür, sich für den Erhalt der Biosphäre einzusetzen.

Unsere Wahrnehmungen sind unsere primäre Wirklichkeit, sie sind der Ausgangspunkt aller wichtigen Entscheidungen. Messdaten können uns an bestimmten Punkten wichtige zusätzliche Informationen liefern, vor allem, wenn wir vorausschauend handeln müssen, wie im Fall des Klimawandels.

Ist das Problem aber nicht ganz anders gelagert, liegt es nicht vielmehr in der Komplexität der Postmoderne, wie gerade die Corona-Pandemie zeigt, die in ihrer Vielschichtigkeit von der Mehrheit der Menschen gar nicht mehr zu erfassen ist? Erleben wir nicht gerade deswegen eine Regression hin zum Glauben statt zum Wissen?

Fabian Scheidler: Wir befinden uns in einer sich zuspitzenden Krise einer ganzen Zivilisation. Das bedeutet, dass alle ihre Fundamente brüchig werden: die ökonomischen, politischen und auch die geistig-ideologischen. Diese Situation kann beängstigend sein, und manche Menschen suchen Zuflucht in vereinfachten Weltbildern, zu religiösem Fundamentalismus, zu Nationalismus, zu esoterischen Lehren oder zu politischen Verschwörungsideologien.

In dieser Lage ist es meines Erachtens wichtig, auf der einen Seite die seriösen Wissenschaften zu verteidigen – etwa die Klimaforschung gegen die Diskreditierungsversuche von Klimaleugnern und fossilen Industrien –, auf der anderen Seite aber auch die technokratische Ideologie zu demontieren, eine Ideologie, die Wissenschaften missbraucht, um uns den Mythos der totalen Beherrschbarkeit der Natur zu verkaufen.

Die seriösen Wissenschaften laden uns ein, zu erkennen, wie viel wir noch nicht wissen und vielleicht auch nie wissen werden; wie unvorstellbar komplex natürliche Systeme sind; und dass es weise ist, vorsichtig mit ihnen zu sein und mit ihnen zu kooperieren, statt sie auszubeuten. Die Technokratie gaukelt uns vor, wir könnten uns mit rein technischen Mitteln aus der Zivilisationskrise herauszaubern, ohne die Fundamente unserer Ökonomie und unseres Naturverständnisses infrage zu stellen. Und das ist eine potenziell tödliche Illusion.