Marco Bülow sagt: Wir werden nur noch von oben beschallt, in Parteien und von Medien. Mit psychologischen Tricks werden Krisenlösungen blockiert. Gibt es Auswege aus der Post-Politik? (Teil 3 und Schluss)
David Goeßmann von Telepolis interviewt den Politiker und Buchautoren Marco Bülow. Er spricht darüber, wie die Klimakrise mit psychologischen Tricks aus der politischen Arena geschoben wird, Parteien förmlich ausbluten und von oben durchregiert werden. Die Proteste der jungen Generation geben ihm Hoffnung. Es brauche aber mehr als ein Update der Demokratie. Ein neuer Typus an Parteien und Bürger:innenräte seien notwendig. Teil 1 und Teil 2 des Interviews analysieren die durch Lobbys gekaufte Demokratie.
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Große Teile der Bevölkerung verlangen mehr Klimaschutz, sie sind besorgt über den drohenden Naturkollaps, während Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Bewegungen Alarm schlagen, endlich umzusteuern. Wie erklären Sie sich dann aber, dass immer noch große Teile der Bevölkerung, Parteien wählen, die weiter keinen Plan für die Lösung der Klimakrise vorlegen oder sogar, siehe AfD, den Notstand leugnen? Wie kann man diesen Widerspruch auflösen?
Marco Bülow: Es gibt psychologische Hürden, egal wie unglaublich die Faktenlage ist. Bei Corona gab es sicherlich Leugner, aber man hat mehr auf die wissenschaftliche Grundlagen geschaut als in der Klimakrise, obwohl die Faktenlage beim Klima klarer, aussagekräftiger ist. Corona gibt es noch nicht lange, es gibt noch nicht so viele Erkenntnisse, man muss vieles noch gegenchecken.
Beim Weltklimarat IPCC wird hingegen so getan, als ob der eine Meinung ausdrücke. Bei Klimawissenschaftlern wird mittlerweile von Aktivisten gesprochen. Nein, das sind wissenschaftliche Grundlagen. Der IPCC fasst tausende Studien zusammen und checkt die noch mal gegen. Man kontrolliert sich gegenseitig. Die Ergebnisse sind praktisch Gesetz. Trotzdem versucht man immer noch, auch mit psychologischen Tricks, die leider durchaus funktionieren, zu sagen, na ja, das ist doch nicht so schlimm. Es betriff uns auch noch nicht, sondern andere. Wir können sowieso nichts ändern, weil wir ja nur zwei Prozent Anteil am CO2-Ausstoß weltweit haben – es wird zugleich verschwiegen, was wir alles schon verursacht haben. Also: Man versucht mit psychologischen Tricks, die Krise zu verdrängen.
Das funktioniert wie gesagt ganz gut, weil beispielsweise meine Generation, die schon Bescheid wusste, aber nicht gehandelt hat, mitschuldig ist. Aber keiner will schuldig sein. Es wird zudem gesagt, dass Klimaschutz unsozial ist. Wir dürfen zum Beispiel nicht zulassen, dass der Spritpreis steigt. In der SPD sind schnell alle auf dem Baum, fordern umgehend, dass der Preis gesenkt werden muss. Da erkennt man plötzlich sein soziales Herz. Aber das ist totaler Humbug, weil die Kosten immer mehr steigen werden, je länger wir warten.
Am meisten wird es die betreffen, auch international, die am wenigsten haben. Geld ist nicht das Problem. Wir geben alleine jedes Jahr 40 bis 60 Milliarden Euro für klima- und gesundheitsschädliche Subventionen aus. Das wird überhaupt nicht diskutiert. Diese Privilegien für Klimaverschmutzungen wie Kerosin-Steuervergünstigungen könnten wir abschaffen. Es ist unfassbar, dass SUVs bezuschusst bzw. steuerlich begünstigt werden durch das Dienstwagenprivileg. Wenn man das Geld nehmen und es vernünftig einsetzen würde, dann könnte man auch den Klimaschutz sozial ausgestalten.
Man könnte sogar zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Aber es wird einem weiß gemacht: Das kostet alles viel. Wenn man nicht viel hat und denkt, jetzt muss ich auch noch zusätzlich für Klimaschutz bezahlen, dann sind die Grenzen schnell erreicht. Dieses Gemisch mit einer starken Profitlobby, die Geld in Werbe- und PR-Aktionen stecken kann, sorgt im Endeffekt dafür, dass einfach nicht genug getan wird. Die Leute sind verunsichert und sehen nicht die Alternative. Das heißt: Eine Partei, die beides zusammenbringt, das Soziale und den Klimaschutz. Daher sind die Wahlergebnisse heute noch so, wie sie sind.
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Massenmedien in modernen Demokratien haben die Aufgabe, die Bürgerinnen zu informieren über alles Relevante, was in ihrem Namen im Bundestag und in der Regierung entschieden wird. Wie sehen sie die Rolle der Medien in Bezug auf das, was sie gerade beschrieben haben, nämlich dass die notwendige Energiewende nicht stattfindet und über Jahrzehnte blockiert wurde. Haben die Medien die Bürger:innen ausreichend informiert über das was geschieht? Sie haben selbst einmal Talkshows untersucht und es kam dabei heraus, dass in der Zeit von 2015 bis 2017 Klimaschutz nicht einmal vorkam.
Marco Bülow: Wenn wir uns die Medien anschauen, dann muss man sagen, dass sie genauso versagt haben wie die Politik. Sie haben das Thema erst wieder auf die Tagesordnung gesetzt, als die Klimabewegung kam. Sie haben es dann schnell wieder ad acta gelegt. Viele haben der Coronapandemie förmlich gedankt, weil damit das Klimathema nicht mehr explodieren konnte.
Viele Medien berichten nicht differenziert und intensiv genug. Ein Beispiel: Es gibt die Kampagne "Klima vor Acht", die das Thema prominenter platzieren möchte, was ich stark unterstütze. Es ist ein Witz, dass wir jeden Tag über Aktienmärkte sprechen, obwohl die allermeisten Deutschen keine Aktien besitzen. Für die Menschen ist es völlig egal, wie sich der Aktienmarkt entwickelt. Aber was alle betreffen wird, die Entwicklungen und die Folgen des Klimawandels, was wir tun bzw. tun müssten, das kommt nur am Rande vor.
Es gibt gute Sendungen, Dokumentationen, die die Situation verdeutlichen. Aber in der politischen Auseinandersetzung, die medial auch gespiegelt wird, spielt Krise fast keine Rolle. Wenn, dann nur oberflächlich.
In Talkshows hat die Klimakrise ganz lange gar keine Rolle gespielt. Das habe ich untersucht. Selbst das Pariser Klimaabkommen, also der historische Meilenstein, wie allgemein gesagt wurde, hat in keiner Talkshow seinen Niederschlag gefunden.
Das ist ein Versagen. Von den Öffentlich-Rechtlichen erwarte ich, dass sie das ganz anders angehen. Aber auch alle anderen. Es gibt Medien, die machen das. Das sind aber meistens nicht die, die einen hohen Verbreitungsgrad haben. Man muss die Leute ja erreichen, die sich nicht durch das Kleingedruckte durchwühlen, Podcasts anschauen oder bei Social Media unterwegs sind, sondern die sich über die großen Massenmedien informieren. Gerade die müssen bespielt werden.
Nach der Post-Politik: "Ich möchte, dass Demokratie die Grundlage von allem ist."
Sie sprechen nicht nur von Postdemokratie, sondern auch von Postpolitik. Was meinen Sie damit? Und: Welche Rolle spielen die etablierten, Agenda setzenden Medien bei der Entfremdung von demokratischen Institutionen?
Marco Bülow: Mit Postpolitik meine ich auch Post-Parteien. Die Parteien haben zwar weiter den Namen, den sie schon immer hatten, aber ihr Konzept wird im Prinzip durch die Politik, die betrieben wird, ausgehöhlt. Bei Post-Politik kommt noch hinzu, was ich bereits über die Medien gesagt habe. Viele Kämpfe werden oberflächlich geführt. Bei Wahlkämpfen geht es nur noch darum, wer den anderen am besten niedermacht und am besten lügt. Es geht nicht mehr darum, wer sich inhaltlich am differenziertesten mit einem Thema auseinandersetzt.
Die Parteien sind in Deutschland der Ort, an dem die politische Willensbildung stattfinden soll. Das hat früher auch zum Teil funktioniert, weil viele in die Parteien gegangen sind und dort Debatten stattfanden. Die, die von den Parteien aufgestellt wurden, mussten sich direkt mit der Basis auseinandersetzen. Das findet aber immer weniger statt.
Die Parteien haben in letzten 20, 25 Jahren die Hälfte ihrer Mitglieder verloren. Nur bei den Grünen und Die Partei gibt es eine Zuwachs, sonst verlieren alle Parteien. Von denen, die in Parteien geblieben sind, sind die meisten über 60, 70 Jahre alt. Das heißt, jüngere Menschen gehen nur noch wenig in Parteien. Es gibt keine Auffrischung, es gibt die Debatten nicht mehr.
Dazu kommt, ich habe es selbst erlebt: Parteitage sind fast egal – selbst wenn inhaltlich gestritten wird. Ich habe beispielsweise mit Frank Schwabe, einem Kollegen aus dem Bundestag, auch Umweltpolitiker, auf einem Parteitag mal das Tempolimit durchgesetzt . Das ist schon über zehn Jahre her, es wurde auf dem Parteitag beschlossen. Es hat sich aber nie irgendwo niedergeschlagen, obwohl wir beide Abgeordnete der Bundestagsfraktion gewesen sind. Es wurde nie verhandelt mit der Union. Die SPD hat nie die Absicht verfolgt, es mal wirklich durchzusetzen.
Wenn das so ist, dann ist es egal, welche Parteitagsbeschlüsse gefällt werden. Zudem ist es schwierig, einen Parteitagsbeschluss überhaupt hinzukriegen, den die Fraktionsführung, Parteispitze oder Regierung nicht will. Es gibt eine Antragskommission, es gibt einen Antragskommissionsleiter, der benannt und nicht gewählt wird. Die Antragskommission sagt ja oder nein und nein bedeutet eigentlich, dass der Antrag tot ist.
Dann gibt es noch das schöne "Überweisen an die Bundestagsfraktion", die Beerdigung zweiter Klasse. In der Bundestagsfraktion wird aber nie darüber geredet.
Das heißt: Die Parteien bluten aus, es gibt nicht mehr die Willensbildung, vor allem nicht mehr von unten nach oben, sondern wenn dann nur von oben nach unten. Das nenne ich Post-Politik. Im Endeffekt gibt es keine Resonanz mehr. Das ist ein Begriff, den der Soziologe Hartmut Rosa geprägt hat. Diese Resonanz ist eigentlich entscheidend für eine Demokratie: ein Wiederhall innerhalb der Parteien, von der Basis über die Funktionsebene bis hin zu den Mandatsträgern und der Regierung. Die Resonanz geht immer in beide Richtungen, natürlich auch von der Bevölkerung zu ihren Volksvertretern.
Heute wird aber nur noch beschallt, auch bei den Medien. Es gibt nur noch eine Beschallung von einigen Wenigen, die von oben nach unten geht. Man kann sich höchstens noch informieren, Fake-News sind auch dabei. Die Chance, selber einzuwirken, mitzugestalten, ist verloren gegangen. Die Leute sind isoliert, auch von den anderen. Die Resonanzräume haben wir eigentlich aufgekündigt.
Was gibt Ihnen Hoffnung, dass die Demokratie in Zukunft belebt wird, eine progressive Re-Politisierung stattfindet und existenzielle Krisen wie die Erderhitzung nicht außer Kontrolle geraten?
Marco Bülow: So komisch das klingt: Die Dringlichkeit der Klimakrise, die leuchtet immer mehr Menschen ein, nicht nur den jungen, die auf die Straße gegangen sind. Da die Krise so dringlich ist, kann man nicht mehr wegschauen. Immer weniger wollen wegschauen. Sie werden sich einmischen müssen. Das gibt mir ein Gefühl, dass wir noch eine Chance haben einzuwirken, da die Dringlichkeit erkannt wird.
Der nächste Schritt ist – das erlebe ich schon bei vielen jungen Menschen, die die Klimademos gemacht haben, die sehen, das nichts passiert – zu begreifen, dass die Politik nichts ändern will, weil sie von einigen bezahlt und beeinflusst wird, damit sie genau das tut. Sie realisieren, dass das politische System aufgebrochen werden muss. Sie werden schnell lernen, dass man nicht nur eine Farbe in der Koalition austauschen muss, damit es besser wird. Das wird passieren und der Druck wird unglaublich stark werden. Dem können sich die Parteien irgendwann nicht mehr entziehen.
Wir sehen bereits starke Fluktuation. Eine Partei kann in einem Monat acht oder zehn Prozentpunkte in einer Umfrage verlieren, selbst eine konservative Partei. Es gibt also sehr viel Unsicherheit in der Bevölkerung und keine fixe Festlegung mehr auf eine Partei. Es können neue Parteien entstehen, die schnell in eine Machtposition kommen. Das kann viel umwerfen. Das sehe ich als Hoffnung, auch, weil viele junge Leute auf die Straße gehen. Es ist aber auch eine Gefahr. Das können natürlich auch andere nutzen, die erst recht die Demokratie demontieren wollen.
Sie schreiben: "Die Fassaden müssen eingerissen werden und die Demokratie einschließlich des Wirtschaftssystems demokratisiert werden." Ein reines Update der Demokratie, des Parlamentarismus, reiche nicht. Die Spielregeln müssten sich ändern. Was meinen Sie damit genau?
Marco Bülow: Es reicht nicht aus, dass immer mehr Menschen aufwachen, Druck ausüben und die Parteien sich vielleicht ein wenig verändern. Wir brauchen vielmehr eine neuen Typus von Parteien, wir benötigen mehr Öffnungen. Zudem ist eine dritte Säule der Demokratie notwendig: Volksentscheide, Petitionen müssen aufgewertet werden. Ich bin vor allen Dingen für Bürger:innenräte, die per Losentscheid zusammengesetzt sind und damit einen Querschnitt der Bevölkerung bilden. Sie müssen Entscheidungen fällen, die dann in Gesetzesinitiativen gepackt werden. Das muss im Bundestag geschehen, ich bin schon für eine Verknüpfung. Die Mitglieder des Bundestages sollten wie bei einer hochmoralischen, ethischen Frage jenseits des Fraktionszwangs frei darüber entscheiden können. Jeder Abgeordnete muss frei entscheiden können. Allein die öffentliche Debatte, die damit ausgelöst wird, wäre sehr spannend. Das würde einiges verändern. Das ist mehr als ein Update.
Aber auch das politische System, gekoppelt mit dem wirtschaftlichen System, muss sich verändern. Wir müssen wegkommen von der marktkonformen Demokratie. Ich möchte, dass Demokratie die Grundlage von allem ist. Ich mag das Nachhaltigkeitsdreieck nicht: Gleichberechtigung von Wirtschaft, Sozialem und Umwelt.
Erstens hat die Gleichberechtigung nicht stattgefunden.
Zweitens: Wirtschaft ist für mich kein Wert an sich. Wirtschaft ist ein Instrument. Wir brauchen die Wirtschaft, wir brauchen aber nicht die Wirtschaft, die gerade existiert. Grundlage ist die Demokratie. Die zentralen Säulen sind "Bewahrung der Lebensgrundlagen" und das Soziale. Bildung, Wirtschaft, Verkehr müssen sich dem anpassen.
Wir sollten Wege und Möglichkeiten finden, die dem Gemeinwohl und den tragenden Säulen der Demokratie dienen. Das ist ein ganz andere Vorgehensweise als die Praxis des Nachhaltigkeitsdreiecks. Da graust es mir, denn es ist nur ein Feigenblatt. Wir müssen aber komplett neu denken.
Marco Bülow war lange Bundestagsabgeordneter. 26 Jahre arbeitete er als SPD-Mitglied und agierte in der Bundestagsfraktion als umwelt- und stellvertretender energiepolitischer Sprecher. 2018 trat er aus der SPD aus, weil er die Politik nicht mehr mittragen wollte. Im letzten Jahr schied er aus dem Bundestag aus und wechselte zu Die Partei.
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