Marco Bülow: Der Angriff des Profits auf die Demokratie

Der Politiker Marco Bülow, langjähriger Bundestagsabgeordneter, sagt: Parlamente dienen nicht mehr der Demokratie. Konzerne halten mit Profitlobbyisten und Lobbytariern das Ruder in der Hand. Bild: Marco Bülow

Parteien werden von oben durchregiert, Profit-Lobbyisten machen aus Volksvertreter:innen Lobbytarier, sagt Marco Bülow. Droht mit Marktkonformität das Aus für die Demokratie? (Teil 1)

David Goeßmann von Telepolis interviewt den Politiker und Buchautoren Marco Bülow über den Stand und die Zukunft der parlamentarischen Demokratie. Das ist Teil 1 des Interviews, die beideren anderen Teile folgen in der nächsten Woche.

Marco Bülow war lange Bundestagsabgeordneter. 26 Jahre arbeitete er als SPD-Mitglied und agierte in der Bundestagsfraktion als umwelt- und stellvertretender energiepolitischer Sprecher. 2018 trat er aus der SPD aus, weil er die Politik nicht mehr mittragen wollte. Im letzten Jahr schied er aus dem Bundestag aus und wechselte zu Die Partei.

Sie sagen in ihrem Buch "Lobbyland. Wie die Wirtschaft unsere Demokratie kauft", dass die Demokratie in Deutschland nicht so funktioniert, wie sie eigentlich sollte, nämlich im Interesse des Gemeinwohls der Bürger:innen. Das, was wir Wirtschaft nennen, also große Unternehmen, kauften die Demokratie. Woran machen Sie dieses systematische Versagen unseres politischen Systems fest?

Marco Bülow: Die Demokratie funktioniert nicht mehr so, wie das Grundgesetz es vorsieht. Im Grundgesetz steht beispielsweise, dass jeder Abgeordnete seinem Gewissen verpflichtet ist. Das politische System ist eigentlich so aufgebaut, dass die Entscheidungsmitte der Bundestag sein sollte. Aber die meisten Bundestagsabgeordneten brechen das Grundgesetz fast jede Woche, weil sie nicht nach ihrem Gewissen abstimmen, sondern sie stimmen danach ab, was die Fraktionsspitze ihnen vorgibt. Erst recht, wenn es sich um eine Regierungsfraktion handelt.

Fast alle Gesetze, die es gibt, über 90 Prozent, werden von der Regierung vorgegeben. Häufig werden sie mit Lobbyisten ausgehandelt. Die Mehrheitsfraktionen nicken es ab, ohne große Diskussion. Da war ich lange daran beteiligt. Die Opposition hat im Prinzip keine Chance. Kein Oppositionsantrag wird jemals angenommen.

Interview mit Marco Bülow: Wege aus der gekauften Demokratie und Postpolitik

Wir hatten sogar den Fall beim jüngsten Afghanistan-Einsatz, wo später Norbert Röttgen, aber auch Altmaier von der damaligen Regierungs-CDU deutlich machten, dass sie niemals Anträge der Opposition annehmen werden. Das ist ein Demokratieverständnis, bei dem ganz viel ins Rutschen kommt.

Dann braucht man eigentlich kein Parlament mehr. Man kann ein paar Beamte hinsetzen, wenn es nur noch darum geht, dass die parlamentarische Mehrheit, die irgendwann mal gewählt wurde und einen Koalitionsvertrag geschlossen hat, meistens auch mit Hilfe von Lobbyisten, die Gesetze einfach durchbringt.

Das ist keine echte Demokratie, wo gerungen wird, wo gestritten wird, wo es um Argumente geht, die sich durchsetzen können und auch mal die Opposition oder ein parteiübergreifender Zusammenschluss eine Chance hat. Aber das wird alles der Parteitaktik unterworfen. Das Gewissen findet nicht statt.

Woran liegt das? Hat es früher eine lebendigere Demokratie gegeben, wurde mehr diskutiert? Den Fraktionszwang hat es ja auch schon in den 60er, 70er Jahren gegeben. Was hat sich verändert ihrer Meinung nach?

Marco Bülow: Zwei Dinge haben sich verändert. Ich glaube, Fraktionen waren damals noch wichtiger und die Entscheidungsmitte lag mehr im Parlament. Es gibt auch die Geschichten, dass früher die Regierung bei den Fraktionsvorsitzenden angeklopft hat. Das waren die Mächtigen mit ihren Fraktionen. Das war noch so, als ich in den Bundestag kam. Damals gab es noch viel mehr Diskussion.

Es gab auch noch Parlamentsgesetze. Beispielsweise das Erneuerbare Energien Gesetz, das war ein Parlamentsgesetz. Darauf konnten sich nämlich in der Regierung die beiden Pole Trittin und Clement damals nicht einigen. Also gab es rot-grün übergreifend – Hermann Scheer von der SPD war einer der Vorreiter – ein Parlamentsgesetz. Das gibt es eigentlich heute gar nicht mehr. Da hat sich einiges getan.

Die Profit-Lobbyisten sind stärker geworden. Natürlich sind alle Kräfte von außen irgendwie Lobbys, aber die kleinen Initiativen und Verbände haben im Prinzip keine Mittel. Es gibt einen unglaublichen Unterschied zwischen den Einflusssphären.

Die einen sind mit sehr viel Geld ausgestattet, mit sehr viel Know-How, mit sehr vielen Leuten, mit großen Büros, mit Möglichkeiten zur Einladung, die auch mit Bestechung und Nebenverdienstmöglichkeiten für Abgeordnete arbeiten. Und dann gibt's die kleinen Initiativen, die können eine Mail schicken. Vielleicht schicken sie mal einen, der fünf Abgeordnete besucht.

Das ist ein unglaubliches Ungleichgewicht, das dort herrscht. Es gibt vor allen Dingen, seit Berlin Hauptstadt ist und im zunehmenden Maße, für jeden Abgeordneten fünf bis zehn Lobbyisten. Die meisten davon sind Profit-Lobbyisten.

Bevor wir zu den Profit-Lobbyisten kommen, möchte ich zuerst noch bei den Parteien und Fraktionen bleiben. Wie kann es eigentlich funktionieren, dass in einer Partei, in den Fraktionen im Parlament, die Befehle und Anweisungen von den Spitzen, also von den Fraktionsspitzen, von den Parteispitzen, einfach befolgt werden, von all denen, die in der Fraktion sitzen oder in der Partei sind. Wie funktioniert dieser Mechanismus?

Marco Bülow: Es haben sich Spielregeln entwickelt, die unfair und einseitig sind. Die konnten sich aber nur entwickeln, weil die Abgeordneten das mit sich haben machen lassen. Dafür gibt es mehrere Mechanismen. Zuerst einmal wirkt natürlich die Abstrafung von denen, die es nicht tun, die dann schnell, teilweise sogar aus ihren Ausschüssen, rausgeholt werden. Die bekommen dann nicht mehr so viel Rederecht, weil das die Fraktionsspitze regelt. Kein Abgeordneter hat Einfluss darauf – bis hin zu Nicht-Aufstellungen bei der nächsten Wahl. Alle Listenabgeordneten sind davon betroffen. Wenn man nicht auf die Landesliste kommt und keinen guten Wahlkreis hat, dann hat man im Prinzip keine Chance.

Das heißt, die Druckmittel sind groß. Dazu kommen die Karrierechancen, das Prinzip "Zuckerbrot und Peitsche". Die Karrierechancen sind sehr groß, wenn man mit dem Strom schwimmt, wenn man alles mitmacht, sogar am besten noch die beschimpft, die nicht mitmachen. Das Belohnungssystem funktioniert, wenn man sich fügt.

Schließlich gibt es noch ein drittes Mittel: Diejenigen, die in Ruhe ihre Arbeit machen wollen, die nicht behelligt werden wollen, möglichst von Strafexpeditionen oder überhaupt von Nachfragen und Rechtfertigungsdruck in Ruhe gelassen werden wollen, die fügen sich auch und machen mit. Dann können sie in Ruhe ihren Job machen. Sie können sich auf ihre Themen konzentrieren und sind bei den anderen Sachen raus. Dadurch funktioniert das wunderbar.

Letztlich ist es das doch Konformismus, was sie beschreiben. Es wäre ein sehr bedrückender Befund, wenn der größte Teil der Abgeordneten, die eigentlich die Interessen und Bedürfnisse der Bevölkerung vertreten sollen – und damit sehr viel Macht und Verantwortung haben –, letztlich konformistisch handeln.

Marco Bülow: Am Ende ist das so. Als ich damals relativ frisch im Parlament und noch sehr jung war, da dachte ich: Alles ist möglich. Es gab eine rot-grüne Koalition. Aber schon da merkte ich, dass vieles nicht funktioniert.

Mir sagte eine gute Kollegin, die schon länger im Bundestag war: Du hast zwei Chancen. Entweder du befolgst die Spielregeln – sie sagte, dass sie sicherlich unfair seien, sie hat mir im Prinzip Recht gegeben –, dann kannst du vielleicht ein paar Rädchen drehen, oder du verlässt das Spielfeld. Und für mich war klar, dass ich weder das eine noch das andere wollte, sondern es noch eine dritte Möglichkeit geben musste: die Spielregeln zu verändern. Aber das sind dann die ganz dicken Bretter.