Mariupol am Ende?
Die Kämpfe in der Donbass-Großstadt Mariupol gehen wohl in Kürze vorüber. Das Leid der Zivilbevölkerung noch nicht
Wenn eine Stadt aufgrund des Ukraine-Krieges in den letzten beiden Monaten durch die Hölle ging, dann Mariupol. Mehr als drei Viertel der Bewohner sind bereits geflüchtet und 90 Prozent der Häuser beschädigt, wenn jetzt in den nächsten Tagen die aktiven Kampfhandlungen im Stadtgebiet zu Ende gehen dürften.
Seit dem 1. März wurde vor Ort heftig gekämpft. Die letzte Stellung der ukrainischen Regierungstruppen mit einer geschätzten Reststärke von bisher 2.000 Soldaten ist dabei das schwer einzunehmende Gelände des ortsansässigen Industriegeländes "Asowstal".
Erstürmung des letzten ukrainischen Postens hat begonnen
Über den Rest des Stadtgebiets hatte man bereits vor Wochen die Kontrolle nach und nach an Russen und Separatisten verloren. Am 21. April wies Russlands Präsident Wladimir Putin seine Armee noch an, Angriffe auf die eingeschlossenen Gegner zu unterlassen und sie stattdessen rundum festzusetzen, was in der Folge gelang.
Seitdem machte das Stahlwerk nur immer wieder Schlagzeilen durch teils geglückte, teils misslungene Evakuierungsaktionen der mit den Soldaten eingeschlossenen Zivilisten, die großteils in den von den Regierungstruppen kontrollierten Teil des Landes gelangen wollen.
Diese reine Belagerungsphase ist seit Dienstag vorbei. Übereinstimmend berichteten zahlreiche ukrainische Medien und die lettische Onlinezeitung Meduza, dass russische Kämpfer in das Gelände des Stahlwerks eingedrungen seien und dort seither heftige Kämpfe stattfinden.
Gelungen ist der Vorstoß auf das Gelände laut einem Berater des Ukrainischen Innenministeriums durch einen Tunnel, den ein ehemaliger Beschäftigter des Werks den russischen Soldaten zeigte. Mit einer vollständigen Einnahme des Werksgeländes und damit des letzten Teils der Stadt in ukrainischer Hand ist dadurch täglich zu rechnen.
Langsame Normalisierung oder anhaltendes Elend?
Wie es für die verbliebenen Bewohner von Mariupol weitergeht, darüber gehen die Meinungen russischer und ukrainischer Quellen stark auseinander. Russen berichten vor allem von einer langsam wieder einkehrenden Normalität im Stadtgebiet, ukrainische Quellen schildern in düsteren Farben eine drohende Seuchengefahr – stimmen könnte beides.
Der bisherige Bürgermeister Mariupols, Wadym Bojtschenko, sprach gegenüber Meduza davon, dass es aufgrund des Zerstörungsgrades sehr schwer werden dürfte, die Strom-, Wasser- und Gasversorgung wiederherzustellen.
In der Stadt hat er mittlerweile nichts mehr zu melden. Die Russen haben den kollaborierenden Stadtrat Iwantschenko zum neuen Bürgermeister ernannt.
Worüber sich ausnahmsweise alle Quellen einig sind, ist die Tatsache, dass die vergangenen Wochen für die nicht geflüchteten Stadtbewohner die Hölle waren und die Zerstörungen riesig sind.
"Alles liegt in Trümmern, es gibt keine Infrastruktur. Keine Tankstellen, keine Geschäfte, weder Lebensmittel noch Industriebetriebe", so die Anwohnerin Olga gegenüber der russischen Onlinezeitung lenta.ru.
Das Schlimmste ist, bombardiert zu werden. Du weißt nie, wann die Granaten Dich treffen. Das Haus mit unserer Wohnung wurde bombardiert, aber man muss gehen, zumindest ein paar Sachen besorgen. So geht man in den Park und fragt sich, wo das nächste Geschoss einschlagen wird. Und ein paar Sekunden später flog eine vor meinen Augen vorbei, explodierte und hinterließ einen Krater in meiner Nähe.
Alewtima Sapolskaja aus Mariupol gegenüber lenta.ru
Grausame Geschichten aus dem letzten Krankenhaus
Die Opfer dieses Beschusses gelangen in ein nahezu zerstörtes örtliches Gesundheitssystem. Nur noch eines von zahlreichen Krankenhäusern der Stadt ist mittlerweile in Betrieb. Die Leitung wurde von den Russen an einen Mediziner der Rebellenhochburg Donezk übergeben. Er berichtet gegenüber der russischen Tageszeitung Kommersant von einer großen Menge Patienten in der Chirurgie mit Explosions- oder Schrapnellwunden.
Seine Ärzte, überwiegend aus Mariupol stammend, operierten täglich von 8 Uhr bis 22:30 Uhr. Manche ihrer Familien wohnten direkt im Krankenhaus, da sie keine andere Möglichkeit mehr hätten. Neben den körperlich Verletzten gibt es auch durch die Kämpfe psychisch stark traumatisierte Menschen in der Stadt.
Vielen fällt es schwer, den Verlust ihres Zuhauses oder den geliebter Menschen zu ertragen. Viele ziehen sich in sich zurück, haben Selbstmordgedanken. Wir haben hier einige Frauen unter 60, die schließen einfach irgendwie ab und sprechen mit niemandem mehr. Sie sitzen nur da und starren. Sie haben eine Art psychisches Problem, das angegangen werden muss.
Dr. Igor Sepik gegenüber Kommersant
Berichte von eingesetzten Söldnern
In der Stadt waren auch ausländische Söldner eingesetzt. Kommersant berichtet ausführlich über den gefangen genommenen Marokkaner Brahm Saadoun, der als Vertragssoldat in der ukrainischen Marineinfanterie gekämpft habe.
Er sei eigentlich zum Studium in die Ukraine gekommen und auf Empfehlung eines ebenso gefangenen Briten zu den Truppen gekommen. Als die Situation für seine Einheit aussichtslos geworden sei, habe sie versucht, sich in Zivil abzusetzen. Dazu kam es in seinem Fall nicht mehr und so ergab er sich den Russen, die ihn nun wegen Söldnertum anklagen.