Ukrainische Kollaboration: 400 Strafverfahren und mögliche Gründe

Teile der Bevölkerung im Osten des Landes begrüßen die Invasion, solange nicht ihr Eigentum zerstört wird. Foto (aus Charkiw): Ministerium für Innere Angelegenheiten der Ukraine

Einige Ukrainer arbeiten offen mit den Behörden der russischen Besatzungsmacht zusammen. Doch das tut nur ein Teil der Minderheit, die sich vom eigenen Land entfremdet hat

Dieser Artikel hat zum Gegenstand bewusst nicht Ukrainer, die im Rebellengebiet des Donbass oder gar auf der Krim 2014 die Seite wechselten. Im Donbass etablierte sich seitdem ein De-Facto-Regime komplett getrennt von Kiew, die Bevölkerung der Krim hat ein ausgesprochen russisches Selbstverständnis, das auch zur Ukrainischen Zeit mehrheitlich schon da war. Hier von Kollaboration mit Russland zu sprechen wäre nur die einseitige ukrainische Sicht ohne Berücksichtigung der Verhältnisse und des Selbstverständnisses der Leute vor Ort.

Es gibt jedoch seit dem Ausbruch des russischen Ukraine-Krieges Ende Februar eine Reihe von Gebieten, in denen sich die große Mehrheit bisher unzweifelhaft ukrainisch fühlte, wo es aber nach dem Einmarsch der russischen Truppen neben erbittertem Widerstand der Bevölkerungsmehrheit auch immer wieder Kollaboration vor Ort gab. Etwa die Regionen Charkiw und Cherson, wo russische Muttersprachler in der Minderheit sind.

Umstrittenes Anti-Kollaborationsgesetz

Was er unter Kollaboration mit den russischen Besatzungsbehörden versteht, hat der ukrainische Gesetzgeber genau definiert.

Als solche angesehen werden sowohl die Mitarbeit in Führungspositionen der Besatzungsbehörden als auch politische Veranstaltungen oder öffentliche Äußerungen für die Besatzer oder die Übernahme von Posten in deren Strafverfolgungs- oder Justizbehörden.

Für all diese Vergehen wird eine langjährige Gefängnisstrafe angedroht. Entworfen wurde das Gesetz bereits vor Kriegsbeginn und sollte Ukrainer von derartigen Verhaltensweisen in den selbst ernannten „Volksrepubliken“ der Rebellen abhalten. Verabschiedet wurde es nach Beginn der russischen Invasion 2022.

Das Gesetz blieb laut der lettischen Onlinezeitung Meduza nicht ohne Widerspruch, auch wenn die Mehrheit der Ukrainer solche Kollaboration mit den russischen Invasoren selbst verurteilt. Menschenrechtler kritisierten an den Regelungen, dass sie eine Inhaftierung von bis zu 30 Tagen ohne Gerichtsentscheidung vorsahen. In Einzelfällen könne das Gesetz auch als Waffe gegen die Meinungsfreiheit missbraucht werden, insbesondere wegen der Strafbarkeit reiner Meinungsäußerungen für die russische Seite.

Allein in der Region Charkiw wurden im März und April diesen Jahres 400 strafrechtliche Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Kollaboration angestrengt. Das zeigt, dass die Kiewer Regierung mit diesen Regelungen mitnichten nur eine theoretische Drohkulisse schaffen wollte, sondern aktiv in eine aktive Strafverfolgung mit der der neuen Rechtsgrundlage einsteigt.

Ein bewaffneter Kampf ist für eine Bestrafung nach der Regelung nicht erforderlich. Ein Leugnen der Invasion reicht - wie in Russland umgekehrt die Bezeichnung der Invasion als „Krieg“ bereits unter Strafe gestellt ist, obwohl sie ein solcher ist.

Motivation der Kollaborateure

Was ist die Motivation für Ukrainer aus den östlichen Kriegsgebieten, mit den russischen Besatzern zusammenzuarbeiten? Hier ausschließlich Opportunismus, Karrierestreben oder böswilligen Verrat zu unterstellen, greift zu kurz. Das zeigen prominente Beispiele aus den besetzten Gebieten.

Vorauszuschicken ist jedoch, dass sie alle ihr aktuelles Amt keiner Wahl, sondern einer Ernennung durch die Besatzer verdanken - nur in den seltensten Fällen wollten gewählte Amtsträger aus der ukrainischen Zeit mit dem russischen Militär kooperieren.

Ein prominentes Beispiel ist die sogenannte „amtierende Bürgermeisterin“ der seit Ende Februar von den Russen beherrschten Stadt Melitopol, Galina Daniltschenko. Sie war direkt davor gewählte Stadträtin für den Oppositionsblock und wurde in ihr Amt eingesetzt, da der eigentliche Amtsträger mit dem russischen Militär nicht zusammenarbeiten wollte.

Ihr Weg in die prorussische Opposition lag noch nicht lange zurück. 2014 hatte sie noch den Euromaidan-Oligarchen Petra Poroschenko unterstützt, den sie im Nachhinein als „schlechtesten Präsidenten“ sieht. Dessen Abwahl zugunsten von Wolodymyr Selenskyj zeigt, dass sie damit nicht alleine steht.

Von ihrem Seitenwechsel profitiert sie nur im Falle eines russischen Sieges - die Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine leitete gegen sie im März ein Verfahren wegen Landesverrats ein.

Auch in der Stadt Mariupol, die durch ihren großen Zerstörungsgrad traurige Berühmtheit erlangt hat, ist ein ehemaliges Stadtratsmitglied namens Konstantin Iwaschtschenko von den Besatzern zum neuen Bürgermeister ernannt worden, während der alte ukrainische Bürgermeister noch weiter amtiert, von einem geheimen Ort außerhalb der besetzten Stadt aus. Nicht zufällig ist auch Iwaschtschenko ein Kommunalpolitiker des Oppositionsblocks.

Die Antimaidan-Opposition

Dieser Block repräsentiert eine Reihe von Parteien, die der Kiewer Regierung schon immer kritisch gegenüberstanden und sich durch die restriktive Sprachpolitik der Zentralregierung gegenüber dem Russischen – Muttersprache der meisten Parteimitglieder – weiter von der Ukraine des Euromaidan entfremdete. Auch Gewalttaten des Euromaidan-Spektrums, wie die Brandschatzung des Gewerkschaftshauses von Odessa mit 42 Toten unter den Oppositionellen hinterließen einen tiefen Graben in der süd- und ostukrainischen Gesellschaft.

Das bedeutet aber nicht, dass die Mehrheit der Anhänger des Blocks der russischen Invasion Sympathie entgegenbringt, die der Angriffskrieg vielen Einheimischen den Tod oder den Verlust ihrer Wohnung einbrachte. Die meisten stellen sich gegen ihn, sehen aber die alleinige Ursache nicht auf russischer Seite, wie es gegenüber dem Wochenmagazin Freitag ein junger, prorussischer Ukrainer ausdrückt.

Nur bei einer Minderheit der Politiker dieser Partei ging die Entfremdung wirklich so weit, mit den Invasoren offen zusammenzuarbeiten. Dennoch wurde der Oppositionsblock unmittelbar nach Kriegsbeginn von der ukrainischen Zentralgewalt verboten.

Es soll nicht der Eindruck erweckt werden, diese Kräfte symbolisieren den Willen der Mehrheit der ostukrainischen Bevölkerung, wie es die russische Propaganda suggeriert. Nur im Donbass selbst gibt es einen nennenswerten Teil Einheimischer, die den Angriff der Russen zumindest begrüßen, solange er nicht mit der Zerstörung der eigenen Stadt und eigenen Wohnung im Zuge des durch Putin entfesselten Krieges einhergeht. Tatsächlich mehrheitlich gewählte Bürgermeister der Oppositionsplattform amtieren vor allem dort.

Keine Mehrheit außerhalb des Donbass

In den Regionen Cherson und Charkiw dagegen stimmte die Mehrzahl der Wähler weder bei den Parlamentswahlen 2019 noch bei den Kommunalwahlen 2020 für den Oppositionsblock. Die russische Besatzung wird dort vom allergrößten Teil der Bevölkerung abgelehnt, wenn nicht bekämpft, wie fortgesetzte proukrainische Demonstrationen trotz Verbot und militärischem Eingreifen in Cherson zeigen.

Die, die dagegen mit den Besatzern zusammenarbeiten, agieren aus sehr unterschiedlichen Motiven und sind teilweise schillernde Gestalten. So wurde im Zuge der Kollaboration ein Wladimir Saldo, bis 2012 Bürgermeister von Cherson, zum Gouverneur der Region. Er hatte noch zwei Tage vor der Invasion öffentlich auf Facebook erklärt, Gegner einer Loslösung seiner Region von der Ukraine zu sein, wie sie die russische Besatzungsmacht anstrebt.

Ihm zur Seite steht nun ein Alexander Kobets, der laut der liberalen russischen Onlinezeitung Media.zona in der Region völlig unbekannt ist, so dass es wilde Spekulationen über seinen persönlichen Hintergrund gibt.

Dennoch ist es ein Zeichen großer Entfremdung von Teilen der Bevölkerung im ukrainischen Osten, wenn die Distanz zur Kiewer Regierung bei einigen so weit geht, den Eroberern zu Diensten zu sein. Sei es aus Pragmatismus oder Überzeugung. Eine Brandmarkung als Verräter ohne Ursachenforschung, die im Falle eines ukrainischen Kriegserfolgs zu erwarten ist, würde die Wunden der Gesellschaft nicht verheilen lassen.