Massen-Evakuierung: Armenier verlassen Bergkarabach
Aserbaidschan hat die komplette Kontrolle über das armenisch bewohnte Bergkarabach. Die meisten Einheimischen verlassen die Region.
Mit einer schnellen Militäraktion in dieser Woche erlangte Aserbaidschan die Kontrolle über Bergkarabach, das sich in den 1990er-Jahren von dem Land losgesagt und seine Unabhängigkeit erklärt hatte. Nach nur einem Tag brach der Widerstand der dort lebenden Armenier zusammen. Dies war wohl der letzte Akt einer mehr als 30 Jahre andauernden kriegerischen Auseinandersetzung mit zahlreichen offenen Waffengängen zwischen Armeniern und Aserbaidschanern.
Die Armenier erklärten sich bereit, die Waffen niederzulegen und das Gebiet an die aserbaidschanischen Behörden zu übergeben. Was wird mit den leidgeprüften armenischen Einheimischen der Region geschehen? Aus Baku heißt es dazu, es gebe einen Plan zur Wiedereingliederung der armenischen Bevölkerung. Doch bisher deutet alles darauf hin, dass viele Tausend Armenier ihre Heimat stattdessen verlassen und nach Armenien gehen werden.
Kein Abkommen, sondern Übergabe eines aserbaidschanischen Plans
"Eine neue Situation ist in der Region unvermeidbar", meinte Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew in einer Ansprache am Mittwoch an seine Nation. Er versprach, dass "alle Rechte der Armenier gewährleistet werden".
Bereits am Tag nach der Militäraktion fanden in der aserbaidschanischen Stadt Yevlach direkte Verhandlungen zwischen Vertretern der Bewohner von Karabach und den Zentralbehörden von Aserbaidschan statt. Die Verhandlungen endeten jedoch nicht mit einem Abkommen, sondern laut Baku mit der Übergabe eines Plans zur Wiedereingliederung der armenischen Bevölkerung in die aserbaidschanische Gesellschaft.
Einzelheiten dieses Plans sind nicht bekannt und es sieht auch nicht danach aus, dass die Führung Aserbaidschans für ein zukünftiges Zusammenleben wirklich ein Konzept hat. Auch macht Aserbaidschan deutlich, dass die Armenier innerhalb des Landes weder Privilegien noch eine Autonomie besitzen werden. Als Geste des guten Willens wurde nur versprochen, dass Lebensmittel und Treibstoff nach Bergkarabach geliefert werden sollen – und dass es eine Amnestie für alle armenischen Militärangehörigen gibt, die ihre Waffen niedergelegt haben.
Über die Anzahl der in Bergkarabach lebenden Armenier gibt es keine Statistiken. Nach eigenen Angaben könnte ihre Zahl über 100.000 liegen. Aserbaidschan bezeichnet diese Anzahl als übertrieben. 200 Menschen sind im Zuge der jüngsten Feindseligkeiten nach armenischen Angaben gestorben, darunter fünf Kinder. Auch vor diesem Hintergrund misstrauen die Armenier der Gegenseite trotz humaner Gesten und ziehen es vor, Bergkarabach zu evakuieren.
5.000 Armenier sind schon weg – mehr werden folgen
Die vor Ort stationierten russischen "Friedenstruppe" hat bereits die erfolgreiche Evakuierung von 5.000 Armeniern vermeldet. Diese Zahl wird wohl noch erheblich steigen. Die armenische Bevölkerung erinnert sich noch gut an frühere Worte Alijews an sie, dass sie nur die Wahl hätten, aserbaidschanische Staatsangehörige zu werden oder Bergkarabach zu verlassen. Eine Bereitschaft, Aserbaidschaner zu werden, existiert nach mehr als 30 Jahren Feindseligkeiten bei kaum jemandem in Bergkarabach.
Seit drei Jahren setzte die armenische Bevölkerung ihre Hoffnungen auf die russischen Friedenstruppen, die nach dem letzten Waffengang 2020 Sicherheit und Frieden in der Region verbreiten sollten. Allerdings nutzte Moskau sein Militär vor Ort von Beginn an vor allem als politisches Instrument, als Zeichen der eigenen Präsenz im Südkaukasus, aber für sonst nichts. Der rechtliche Rahmen und die Befugnisse der russischen Friedenstruppen wurden nie definiert. So haben sie nicht einmal ein Mandat zum Einsatz von Waffen, was Aserbaidschan wiederholt nutzte.
So haben aserbaidschanische "Umweltaktivisten" Ende Dezember 2022 die Ein- und Ausreise auf dem sogenannten Latschin-Korridor, der einzigen Verbindung zwischen Armenien und Aserbaidschan eingeschränkt. Die russischen Friedenstruppen blieben untätig. Im April diesen Jahres blockierten dann die Aserbaidschaner die Straße komplett. Wieder zeigten die Friedenstruppen keine Reaktion. Als Aserbaidschan nun seine Militäroperation durchführte, blieb das russische Militär dem gegenüber völlig gleichgültig. Kremlsprecher Peskow bezeichnete sie als "interne Angelegenheit Aserbaidschans".
Untätigkeit als Rache aus Moskau
Diese distanzierte Reaktion Moskaus ist wohl größtenteils Rache an dem armenischen Ministerpräsidenten Nikol Paschinjan, der sich im vergangenen Oktober bei einem Treffen mit Alijew in Prag bereit erklärt hatte, die aserbaidschanische Hoheit über Bergkarabach anzuerkennen - unter Vermittlung der Europäischen Union. Moskau wollte lediglich den Konflikt eingefroren lassen, um seine Präsenz im Südkaukasus zu sichern.
Alleine, dass Paschinjan 2018 unter Straßenprotesten an die Macht kam, hat das Verhältnis zwischen Moskau und Eriwan bis zur Unkenntlichkeit verändert. Es gibt sogar die Meinung, dass Putins persönliche Feindschaft zu Paschinjan der Grund dafür ist, dass Moskau 2020 in keiner Weise in den Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan eingegriffen hat und damit Baku gewinnen ließ. Dazu passt der Ton der russischen Staatspropaganda, die Paschinjan als "westliche Marionette" bezeichnet, weil er auch die Annäherung an die EU und USA sucht.
Auch für die nun beabsichtigte Anerkennung des Internationalen Strafgerichtshofs durch Armenien, der einen Haftbefehl gegen Putin ausgestellt hat, rächte sich der Kreml und unterstützte Massenproteste, die einen Rücktritt Paschinjans forderten. Die Rachegelüste Moskaus gehen so weit, dass man sogar den Beschuss russischer Friedenstruppen durch die Aserbaidschaner ignorierte. Hier darf man nicht vergessen, dass ein ähnlicher Vorfall in Georgien 2008 von Moskau als eigener Kriegsgrund herangezogen wurde.
Trotz der Unruhe im Land wird sich der armenische Premierminister jedoch voraussichtlich an der Macht halten. Seine Partei "Zivilvertrag" belegte auch bei den Parlamentswahlen 2021 nach einem verlorenen Krieg den ersten Platz und erhielt fast 54 Prozent der Stimmen.
So werden die betroffenen Armenier im Karabach zu reinen Verhandlungsobjekten degradiert. Baku wird sich bemühen, doch möglichst viele zur Annahme der aserbaidschanischen Staatsangehörigkeit zu bewegen. Dennoch verlassen Tausende dort ihre Häuser und gehen nach Armenien. Da man dort nicht auf einen so großen Flüchtlingsstrom eingestellt ist, droht eine humanitäre Katastrophe.