"Maximierung des psychischen Einkommens"

Seite 2: "In unserem Alltag führen wir ständig Aushandlungsprozesse"

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Finden Sie Ihre These: "Sex ist Tausch zum Zweck der Maximierung psychischen Einkommens" nicht selbst ein wenig übertrieben? Ist für Sie Tausch und Warentausch das Gleiche?

Gérard Bökenkamp: Wir tauschen eigentlich ständig. Das ganze Leben ist ein Geben und Nehmen zum gegenseitigen Vorteil. Dieser Vorteil ist eben nicht unbedingt ein materieller, sondern ein emotionaler. Das gilt im Übrigen auch für den Tausch von Gütern. Die Bedeutung von Gütern liegt in ihrem emotionalen Mehrwert. Ein gutes Essen, ein Strandurlaub, ein Luxuswagen erhalten ihre Bedeutung durch die Bedürfnisse, Wünsche und Gefühle, die wir mit ihnen verbinden. Darum eben auch "psychisches Einkommen".

Wenn ich das Geld und die Güter weglasse, dann bleibt es immer noch ein Tausch. Bei einem Date geben wir Aufmerksamkeit, Romantik und Komplimente und empfangen dafür Humor, Sympathie, erotische Spannung. In der Regel versuchen wir Geben und Nehmen in einem Gleichgewicht zu halten. In unserem Alltag führen wir deshalb ständig Aushandlungsprozesse. Wenn das Geben und das Nehmen in einer Beziehung zu einseitig verteilt ist, dann wird die Beziehung wahrscheinlich in eine Krise geraten. So wie - und das ist jetzt ein unromantischer Vergleich - eine Geschäftsbeziehung, bei der sich eine Seite konsequent übervorteilt sieht, wohl nicht von langer Dauer sein wird.

"Karl Marx lag in einem Punkt richtig und in einem falsch"

Aber passiert nicht genau das in unserer Gesellschaft, wenn man die Einkommensquellen Kapitalbesitz und Lohnarbeit gegenüberstellt? Ein Marxist würde auf ihre These vom Markt als Hort von Freiheit und Wohlstand entgegnen, dass auf dem Arbeitsmarkt strukturelle Ungleichheitsmechanismen ausgeblendet werden, insofern man von den unterschiedlichen Ausgangspositionen der Marktteilnehmer abstrahiert: Der Lohnabhängige muss länger arbeiten als zum Erhalt seiner Arbeitskraft notwendig, während der Kapitalist diesen Mehrwert einstreicht und wieder zum Zweck der Geldvermehrung als Kapital investieren kann. Die Gleichbehandlung von Kapitalbesitzer und Lohnabhängigen führt danach zu zunehmenden sozialen Diskrepanzen. Erleben wir das nicht gerade?

Gérard Bökenkamp: Ich würde überhaupt nicht bestreiten, dass es auf Märkten unterschiedlich starke Verhandlungspositionen gibt. Im Gegenteil beschreibe ich ja in meinem Buch wie verschiedene Verhandlungspositionen auf Beziehungsmärkten zustande kommen und wie sie sich auswirken. Der Marktmechanismus spiegelt Knappheit wieder. Das ist sowohl auf Beziehungsmärkten als auch auf Arbeitsmärkten so. Ich denke Karl Marx lag in einem Punkt richtig und in einem falsch. Er lag richtig mit der Beobachtung, dass zu seiner Zeit Arbeiter gegenüber den Fabrikanten in einer schwachen Verhandlungsposition waren. Er lag falsch mit der Annahme, dass das grundsätzlich immer so ist und hat die eigentliche Ursache vernachlässigt.

Der im letzten Jahr verstorbene Historiker Hans-Ulrich Wehler hat darauf hingewiesen, dass man die Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts nicht verstehen kann, ohne das enorme Bevölkerungswachstum zu bedenken. In den meisten Ländern Europas hat sich die Bevölkerung in dieser Zeit verdoppelt oder sogar verdreifacht. Dem stand aber gerade in der frühen Phase der Industrialisierung nur ein eine sehr begrenzte Zahl von Industriearbeitsplätzen gegenüber. Kapital war also knapp, Arbeit hingegen in Hülle und Fülle vorhanden. Dieses Problem ließ sich nicht dadurch lösen, indem man die Fabrikanten enteignete, sondern nur dadurch, in dem man mehr Fabriken baute und das Angebot an Arbeitsplätzen erhöhte.

In Zeiten in denen die Ressource Arbeit knapp ist, sind es die Kapitalbesitzer, die um Arbeitskräfte konkurrieren müssen. Nach der Großen Pest im Spätmittelalter gab es viel Land, aber nur noch wenige Landarbeiter, die es bebauen konnten. Das stärkte ihre Verhandlungsposition gegenüber den Landbesitzern und die Reallöhne stiegen. Das kann man zum Beispiel am wachsenden Fleischkonsum in dieser Zeit ablesen. Dasselbe Phänomen beobachten wir in den ersten Nachkriegsjahrzehnten. Die Löhne stiegen, die Samstagsarbeit wurde abgeschafft, Arbeitgeber zahlten zum Teil über Tariflohn und der eine Millionste Gastarbeiter bekam ein Motorrad geschenkt.

Störfaktoren

Würden Sie sagen, dass Finanzmärkte genauso funktionieren wie Gütermärkte? Robert Misik behauptet beispielsweise, dass Finanzmärkte prozyklisch und Gütermärkte antizyklisch agieren: Beim Gütermarkt sinke die Nachfrage, wenn die Preise steigen, auf dem Finanzmarkt passiere genau das Gegenteil. Diese führe nicht zu einem Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage, sondern bewirke stattdessen ökonomische Instabilität. Was halten Sie davon?

Gérard Bökenkamp: Als Wirtschaftshistoriker befasse ich mich etwa seit zehn Jahren mit Finanzgeschichte. Das Ergebnis meiner Beschäftigung mit diesem Thema ist, dass es die eine schlanke Theorie, die alle Finanz- und Wirtschaftskrisen der letzten Jahrhunderte vollständig erklären kann, nicht gibt. Klar, gibt es die Überhitzung an der Börse. Das Teilreservesystem der Banken und private Kreditschöpfung sind Quellen der Instabilität. Die Zentralbanken neigen zur Übersteuerung in die eine oder andere Richtung. Falsch festgelegte Wechselkurse, Protektionismus und Handelskriege können eine erhebliche Dynamik entfalten und auch falsche Anreize in der Rechtssetzung und in der Regulierung tragen dazu bei. Und natürlich auch historische Ereignisse wie Kriege, Bürgerkriege, Revolutionen, Seuchen, Naturkatastrophen.

Störfaktoren gibt es also immer und mehr als genug. Wenn aber durch die historischen Umstände eine Reihe dieser Faktoren zu einem bestimmten Zeitpunkt zusammen treffen und sich gegenseitig verstärken, dann erleben wir eine schwere Wirtschaftskrise.

Vielleicht stellen wir aber auch einfach die falschen Fragen. Vielleicht ist das große Rätsel ja gar nicht, warum es auf der Welt Krisen und Instabilität gibt, sondern wie es uns Menschen immer wieder gelingt, in einer unsicheren und chaotischen Welt überhaupt stabile soziale Systeme und komplexe Wirtschaftskreisläufe zu schaffen. Diese Umkehr der Perspektive ist durchaus nicht irrelevant für das Thema Sexualität und Beziehungen. Wir sehen etwa oft als Krisensymptom, dass in den Großstädten fast die Hälfte der Ehen geschieden werden. Dabei ist es doch erstaunlich, dass über die Hälfte der Ehen ihr ganzes Leben zusammenbleibt. Denn wenn zwei Menschen heute eine Ehe eingehen, dann haben sie im Schnitt eine doppelt so lange Lebensspanne vor sich wie noch vor hundert Jahren.

In Teil 2 des Gesprächs äußert sich Gérard Bökenkamp zu Judith Butler, sexueller Doppelmoral, Pornographie und Michel Houellbecq.

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