Mediale Einseitigkeiten und Verlautbarungsjournalismus

Deutschland benötigt dringend neutrale und erklärende Nachrichten mit Reichweite - ein Kommentar

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Nach mehreren Stunden Autofahrt in Deutschland, und dem Anhören von Nachrichten diverser Sender, stellt man fest, dass Deutschland auf dem Niveau eines Verlautbarungsjournalismus angekommen ist. Manche Nachrichtensendungen hören sich tatsächlich an wie Realsatire, wenn man mehr über Hintergründe und Einzelheiten weiß. Der größte Teil der politischen Informationen besteht offensichtlich aus der Übernahme von Presseveröffentlichungen, ohne weitere Reflexion. Wenn es zu Bewertungen oder Aussagekorrekturen kommt, sind es praktisch immer die Aussagen von nicht mit der geltenden Mainstream-Politik übereinstimmenden Medien. Diese werden offen oder auch durch Wahl von Ausdruck und Sprache, verdeckt, manchmal spöttisch, konterkariert. Gabriele Krone-Schmalz hat die Misere der deutschen Medienpolitik mit dem Begriff "entlarvende Automatismen" (Video) gut auf den Punkt gebracht.

Diese Einseitigkeit provoziert auf der Gegenseite Einseitigkeit, z.B. in Blogs, Foren und alternativen Nachrichtenquellen. Der normale Medienkonsument wird gezwungen, sich mit vielen unterschiedlichen einseitigen Ansichten auseinander zu setzen, um ein einigermaßen neutrales Bild zu erhalten, und sich eine eigene Meinung zu bilden. Da aber die "Leitmedien" den Anspruch des einzig wahren Journalismus erheben, glauben sich viele Medienkonsumenten gar nicht in der Not, zusätzliche Informationen zu sammeln. Oder sie haben schlicht und einfach keine Zeit oder Lust dazu.

Auch der Verweis auf ausländische Nachrichtensender hilft nur beschränkt, da alle, egal aus welcher Region oder Kulturkreis, eine eigene Sicht auf die Dinge haben, die immer und zwangsläufig einseitig ist. Was die Situation noch verschärft, ist die Darstellung der Mediensituation in anderen Ländern durch angeblich neutrale deutsche Medien. Darin werden dann diese Medien als vollkommen voreingenommen und propagandistisch beschrieben. Dies trifft zwar in vielen Fällen tatsächlich zu, allerdings ist das Internet voll von Beispielen, wie sich die deutschen Medien genau in diese Richtung bewegt haben. Was dem Medienkonsumenten noch das zusätzliche Gefühl der Sicherheit gibt, richtig und neutral informiert zu sein.

Ein Beispiel ist die Darstellung der "OSZE-Beobachter", die nicht Teil der offiziellen OSZE-Delegation war, die in der Ukraine Krise schlichten soll, obwohl durch Regierung und Medien über Tage dieser Eindruck erzeugt worden war. In Wirklichkeit waren sie, vorsichtig ausgedrückt, Informationssammler oder Militärbeobachter für die nicht legitimierte Regierung in Kiew, unterwegs in den Gebieten der Föderalisten in der Ost-Ukraine. Wie der Sprecher der OSZE, Claus Neukirch, schon von Anfang an deutlich gemacht hatte, ohne dass die Medien in den ersten Tagen, ja oft noch heute, darauf eingegangen wären ("Das ist ein Verstoß gegen alle Standards").

Gescheiterte deutsche Medienpolitik

Mit anderen Worten, was fehlt ist das, was man eigentlich behauptet in Deutschland mit Journalismus liefern zu wollen: eine neutrale Darstellung der Situation, in der alle Ansichten angemessen gewichtet dargestellt werden, um dem Medienkonsumenten ein eigenes Urteil zu ermöglichen. Wenn das Springer-Imperium dagegen im Arbeitsvertrag schon eine Einseitigkeit verlangt, und wenn sogar das Verfassungsgericht die Einflussnahme der Politik auf die öffentlich-rechtlichen Medien rügt, kann man ruhig davon ausgehen, dass die deutsche Medienpolitik gescheitert ist. Mehr Gründe finden sich in Wikipedia und der eigenen Beobachtung vieler Internetnutzer.

Da es offensichtlich illusorisch ist zu verlangen, dass ein Journalist "objektiv" berichtet, sieht man seine wirtschaftliche Abhängigkeit, oder dass ein Medienkonzern bzw. die öffentlich-rechtlichen Medien entgegen den eigenen Interessen Nachrichten verbreiten, bedarf es eines neuen Ansatzes.

Der Kollektiv-Journalismus

Ein Lösungsansatz könnte darin bestehen, Medienunternehmen einer bestimmen Größenordnung bzw. Reichweite dazu zu verpflichten, Redaktionen grundsätzlich mit unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Meinungen zu besetzen. Das würde natürlich an den Grundfesten der Macht der Medienmogule rütteln, andererseits endlich das realisieren, was uns derzeit nur vorgegaukelt wird: neutrale Nachrichtenpolitik.

Was ich mit Kollektiv-Journalismus meine, ist das gemeinsame Definieren einer Nachricht durch grundsätzlich mindestens zwei Journalisten mit divergierender Meinung. D.h. jede Redaktion mit Reichweite und Einfluss würde gezwungen, Stellen auszuschreiben so dass die Vielfalt der Meinungen vertreten ist. Im Prinzip also das Gegenteil von dem, was im Springer-Verlag praktiziert wird.

Wenn wir davon ausgehen, dass die Macht der großen Medienkonzerne längst so groß ist, dass dieser Ansatz für die privaten Medien unrealisierbar ist, wäre der Ansatz zumindest im öffentlich-rechtlichen Bereich realisierbar.

Nachrichten nach Diskurs

Das bedeutet, dass nicht einfach ein Redakteur eine Nachricht des Presseamtes der Bundesregierung übernimmt oder die Meldung einer Nachrichtenagentur weiter verbreitet. Oder dass ein Chefredakteur nicht mal eben durch Streichen und Umformulieren einen Text verändert. Sondern dass es immer mindestens zwei Verantwortliche für eine Meldung gibt. Und die beiden müssen zu unterschiedlichen Meinungsrichtungen gehören.

Im Prinzip enthält die Idee der öffentlich-rechtlichen Medien genau diese Komponenten: pluralistische Zusammensetzung, Darstellung aller Meinungen. Nur dass dies die Allmacht der wirtschaftlichen "Zwänge" nicht berücksichtigt, ebenso wenig wie die Entwicklung der Parteien in Deutschland. Über Letzteres gab es hier auf Heise.de ja bereits umfassende Analysen.

Was also auf Ebene des Lobbyismus für pluralistische Strömungen offensichtlich gescheitert ist, muss übertragen werden in die praktische Arbeit der Redaktionen. Und alleine die wirtschaftliche Unabhängigkeit von Journalisten würde bereits eine deutliche Neutralisierung des Nachrichtenbildes ergeben. Denn wenn Journalisten sich als Vertreter einer Meinungsrichtung erkläre, und Vertreter jeder wichtigen Richtung in der Redaktion angestellt sein MÜSSEN, wird aus der Last plötzlich eine Lust.

Natürlich kann sich nicht einfach jemand als "Links" oder "Konservativ" bezeichnen, als religiös oder freidenkerisch, um auf die entsprechende Stelle zu passen. Seine Einstellung muss durch die Gemeinschaft der "linken" oder "konservativen" Journalisten bestätigt werden. Aber natürlich muss auch Platz für solche "ohne Meinung" sein, die dann z.B. die Rolle des Mediators übernehmen.

Quotenregelung

Mit anderen Worten fordere ich eine Quotenregelung für Redaktionen. Je nach Größe einer Redaktion müssen Vertreter unterschiedlicher Meinungen beschäftigt werden. Und wenn es um eine Nachrichtenmeldung geht, müssen grundsätzlich mindestens zwei streitende Meinungen zu einem Konsens finden.

Praktische Umsetzung

Gestern hörte ich im Radio sinngemäß folgende Meldung:

US-Präsident Obama besuchte Malaysia. In seiner Rede nach dem Gespräch mit … wies er darauf hin, dass Malaysia große Fortschritte in Hinsicht auf die Erfüllung der Menschenrechte gemacht hätte, auch wenn noch nicht alles vollkommen wäre. Der Präsident traf sich entgegen Plänen nicht mit Mitgliedern der Opposition …

Der unbedarfte Hörer denkt sich jetzt: Aha, Malaysia bewegt sich in die richtige Richtung, das Land ist in der "Wertegemeinschaft" angekommen. Aber dieser Eindruck trügt. Die Aussage Obamas hatte, dem Eindruck nach, in erster Linie das Ziel, den Abschluss eines in Diskussion befindlichen Freihandelsabkommens zu erleichtern. Tatsächlich hat sich die Menschenrechtssituation in keiner Weise verbessert, eher verschlechtert. Wie verhindert man nun diese zwangsläufig entstehende Fehlinformation des deutschen Medienkonsumenten?

Die Meldung dürfte eben NICHT von EINEM Redakteur weiter gegeben werden. Vielmehr müssten sich mindestens zwei Mitarbeiter des Medienunternehmens mit widerstreitenden Meinungsrichtungen zusammensetzen, um die Meldung gemeinsam zu formulieren. Wie könnte das ablaufen? Z.B. indem ein Vertreter der konservativen Fraktion mit einem Vertreter der progressiven oder linken Fraktion gemeinsam die Meldung formuliert. Was dann wie folgt klingen könnte:

US-Präsident Obama wies bei seiner Rede während eines Malaysia-Besuchs, bei dem auch über eine Freihandelsvereinbarung und militärische Kooperation gesprochen wurde, darauf hin, dass Malaysia Fortschritte in Hinsicht auf Erfüllung von Menschenrechten gemacht hätte. Menschenrechtler jedoch kritisieren die Regierung wg. angeblich massiver Wahlfälschungen bei der letzten Parlamentswahl und wegen einer offensichtlich politisch motivierten Verurteilung des Oppositionsführers wegen "Homosexualität" zu einer langen Gefängnisstrafe. Ebenso erklären sie, dass die Bevorzugung einer bestimmten Ethnie in der Verfassung inzwischen zu einer Hauptquelle für Korruption wurde.

Zu lang? Vielleicht lang, aber mit deutlich mehr Informationsgehalt und einer deutlich neutraleren Notation. Die kürzere Alternative wäre:

Der US-Präsident Obama wies bei seiner Rede während eines Malaysia-Besuchs, bei dem auch über eine Freihandelsvereinbarung und militärische Kooperation gesprochen wurde, darauf hin, dass Malaysia Fortschritte in Hinsicht auf Erfüllung von Menschenrechten gemacht hätte, was Menschenrechtlicher jedoch mit Hinweis auf rassistische Regelungen in der Verfassung, Wahlbetrug und politische Gerichtsentscheide, bestreiten.

Zu langsam?

Der Einwand wird lauten: zu teuer und zu langsam. Zu teuer lässt sich leicht ausräumen, wenn man die Honorare in öffentlich-rechtlichen Medien sieht, die für Unterhaltung gezahlt werden. Und was "zu langsam" angeht, wäre etwas Zurückhaltung vernünftig, weil alleine dadurch schon Falschinformationen, wie in den letzten Monaten zuhauf entstanden, vermieden werden könnten. Das Prinzip der Quellenprüfung wurde still und heimlich ersetzt durch Entlastungshinweise wie: "unbestätigte …" oder "Internetvideo".

Öffentlich-rechtliche Medien, die langsamer, aber mit höherer Qualität arbeiten könnten, weil sie durch unsere Gebühre, und nicht "die Märkte" finanziert werden, könnten dazu führen, dass auch private Medien gezwungen werden, verantwortlicher mit Quellen und sorgfältiger mit Formulierungen umzugehen.

Neutraler Journalismus überhaupt gewollt?

Wenn unter dem Eindruck des offensichtlichen Versagens der deutschen Medienpolitik keine Reform, in dieser oder einer anderen Art, durchgeführt wird, kann man nur zu der Meinung kommen, dass es keineswegs im Interesse der Politiker in diesem Land liegt, wirklich neutrale und unabhängige öffentlich-rechtliche Medien zu fördern. Ganz zu schweigen davon, privaten Medienunternehmen strengere Regeln für journalistische Arbeit aufzuerlegen.