Medien: Der verdrängte Vertrauensverlust

Seite 2: "Verunsicherte" Zuschauer?

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Es bleibt der große vorherrschende Mythos in deutschen Leitmedien, man berichte neutral und fair über Russland, wo doch die Anti-Putin-Schlagseite eigentlich längst für jeden klar erkennbar ist. Beispielhaft für viele andere kommentiert die ARD gegenüber Telepolis das abweichende Votum großer Teile des Publikums allerdings so:

Dass sich Bürger bei einem Konflikt, der in seiner Dimension die Sicherheitsinteressen Europas berührt und kaum Fortschritte hin zu einer friedlichen Lösung erkennen lässt, sorgen, ist sehr nachvollziehbar. Dass viele Menschen zudem aufgrund der unübersichtlichen Lage bei diesem Konflikt und einer Vielzahl unterschiedlicher Versionen der Konfliktparteien zum Kriegsgeschehen verunsichert sind, verwundert nicht. Dies spiegelt sich auch in Zuschriften, die die ARD erreichen.

ARD

In diesen Gedanken liegt jedoch eine seltsame Verdrehung. Denn ein großer Teil des Publikums sagt ja klar, er fühle sich beim Thema Ukrainekonflikt nicht ausgewogen informiert. Das ist etwas völlig anderes als eine "Verunsicherung". Im Gegenteil - diese Menschen sind sich sicher, dass die Berichte nicht fair die Realität spiegeln. Was das ARD-Statement wirklich meint, ließe sich daher vielleicht, frei übertragen, so zusammenfassen: "Die Leute haben offenbar Angst vor Eskalation und Krieg und wollen daher Putin nicht so stark kritisiert sehen, wie er es verdient." Wenn das gemeint sein sollte, dann schwingt darin zugleich die Rechtfertigung mit, eine einseitige Russlandkritik sowie eine daraus resultierende Eskalation des Konfliktes sei irgendwie doch "angemessen" und damit auch wieder journalistisch vertretbar, wenn nicht sogar geboten.

Das ganze Gedankengebäude ruht auf der Annahme, Russland sei im Falle der Ukraine der Aggressor, der Westen nur Verteidiger. Daher bleibt es entscheidend für das Verständnis des Konfliktes, was im Februar 2014 wirklich in Kiew passiert ist - eine Revolution oder ein illegaler Putsch? - und was daran anschließend auf der Krim geschah - eine Annexion oder eine aus Sicht der Krimbewohner legitime Sezession? Diese Widersprüche und Ambivalenzen aber werden medial weiterhin in einer falschen Eindeutigkeit versteckt - alles sei glasklar, Putin der Schurke, wir die Guten.

Solange dies das Grundniveau der Debatte ist - und daran hat sich in den vergangenen zwölf Monaten nur sehr wenig geändert -, so lange wird sicher auch der Lernprozess beim Dialog zwischen Leitmedien und Publikum nur wenig Fortschritte machen. Schritte heraus aus dem Schwarz-Weiß-Denken, wie sie etwa Egon Bahr in einer aktuellen Rede skizziert (Existenz, Koexistenz, kooperative Existenz werden medial weiterhin eher mit Missachtung bedacht.

Propaganda machen immer die anderen

Darüber hinaus ist es offenbar eine festverankerte Überzeugung vieler Alpha-Journalisten, dass Propaganda zum Ukrainekonflikt ausschließlich in russischen Medien zu finden sei, man hier im Westen hingegen stets ausgewogen korrekte Informationen verbreite. Oder anders ausgedrückt: Propaganda machen immer die anderen. Diese Sichtweise äußerte zuletzt Berthold Kohler, einer der Herausgeber der FAZ, in einem Kommentar.

Darin wird auf eine aktuelle Allensbach-Umfrage Bezug genommen, derzufolge die Mehrheit der Deutschen Russland für den Schuldigen und Aggressor in der Krise hält. Diese Ansicht sei nun aber nicht etwa Ergebnis einer erfolgreichen westlichen Propaganda, sondern ein Ausweis der Fähigkeit der Deutschen, russischer Propaganda zu widerstehen. Kohler fasst zusammen:

Es ist beruhigend zu sehen, dass die große Mehrheit der Deutschen nicht auf Moskaus Manipulationsversuche hereinfällt, sondern sich selbst ein Urteil bildet. Die Fähigkeit zur Kritik und die Neigung zum Zweifeln zählen nicht zu den Schwächen, sondern zu den Stärken des Westens.

Berthold Kohler

Interessant ist nun, dass bei einem anderen Umfrageergebnis, wie etwa bei der erwähnten repräsentativen Zapp-Umfrage, genau umgekehrt argumentiert wird.

Leserkommentare als Gradmesser der Freiheit

Zum verwandten Thema "Einschränkung der Kommentarfunktion" ist die interne Meinungsbildung in den Redaktionen derweil wohl noch nicht abgeschlossen. Einzig Zeit Online (etwa 30.000 Kommentare werden dort nach eigener Aussage pro Woche verarbeitet) positioniert sich auf Nachfrage klar:

Wir werden die Kommentarfunktion nicht einschränken, sondern haben im Gegenteil unser Moderationsteam erweitert, um eine Bearbeitung der Kommentare zu gewährleisten.

Zeit Online

Der Springer-Verlag weist ähnlichen Sinnes darauf hin, dass bei Welt Online "generell alle Artikel mit geöffneter Kommentarfunkton" publiziert werden. Auch bei Bild.de würde man nur vereinzelt Ausnahmen machen, etwa bei Berichten über Straftaten.

Die Öffentlich-Rechtlichen hingegen scheinen eher noch abzuwarten, was "die anderen" so machen. So heißt es aus der ARD nebulös:

Die Redaktion von tagesschau.de kennt die laufende Diskussion bei anderen Medien, wie man die Rahmenbedingungen im Kommentarbereich anlegen sollte, um eine möglichst sachliche und weiterführende Diskussion zu ermöglichen. Diese Debatte gilt es weiter zu beobachten.

ARD

Und das ZDF meint:

Jedes Medium muss für sich selbst entscheiden, ob es Kommentarfunktionen abschaltet. Angesichts mancher wüster Beleidigung und unsachlicher, frivoler Vorwürfe erscheint diese Maßnahme zumindest verständlich. Wir haben zu diesem Mittel - soweit ich weiß - noch nicht gegriffen.

ZDF

Ob man das aber vielleicht bereits diskutiert - dazu kein Kommentar. Bekanntlich sind FAZ und insbesondere die Süddeutsche Zeitung mittlerweile weniger offen für die Meinungen ihrer Leser. Während die FAZ bei strittigen Themen wie dem Ukrainekonflikt regelmäßig die Kommentarfunktion ausschaltet (auch beim eingangs erwähnten medienkritischen Niggemeier-Text war übrigens Kommentieren in der FAZ nicht erlaubt), hat die Süddeutsche im vergangenen Herbst gleich den gesamten Kommentarbereich geschleift (Zwischen Lesern und Lobbynetzwerken). Hier präsentiert die Redaktion seither zwei bis drei Themen pro Tag, zu denen man Kommentare schreiben "darf". Alles Übrige findet bis auf weiteres ohne offene Leserdebatte statt.

Dass das Ausmaß der Bereitschaft, Leserkommentare zuzulassen, auch ein Gradmesser für die Freiheit der Medien insgesamt ist, scheint sich noch nicht bis zum Letzten herumgesprochen zu haben.

Anmerkung: Süddeutsche Zeitung, FAZ und Spiegel beantworteten die zugesandten Fragen zur Vertrauenskrise der Medien, zur eigenen Einschätzung der Zapp-Infratest-Dimap-Umfrage sowie zum Umgang mit Leserkommentaren nicht.