Medienkompetenz mit Madeleine
Ohne Kosten und Papierberge zu scheuen, machten sich zwei Mediengiganten auf dem ersten "Literacy Summit" daran, Politikern das Einmaleins der (Nicht-) Regulierungspolitik zu erklären
Um eine Verlebendigung des Medienkompetenz-Begriffs und seine Erschließung für das 21. Jahrhundert bemühten sich die Stiftungen der Mediengiganten AOL Time Warner und Bertelsmann auf einem hochkarätig besetzten "Gipfeltreffen" in Berlin. Inhaltlich lässt sich das Ergebnis vielleicht am besten als "fruchtbares Scheitern" abhaken. Doch politisch könnte sich die kostspielige Veranstaltung für die Medienwirtschaft ja irgendwann mal auszahlen.
Seit Jahren gilt die Stärkung der Medienkompetenz bei Politikern und Wissenschaftlern als Königsweg zum mündigen Bürger, Nutzer und Verbraucher in der Medien-, Kommunikations-, Informations- oder Wie-auch-immer-man-sie-bezeichnen-will-Gesellschaft. Oft ist das Schlagwort nur eine hohle Phrase, die sich aber - im Verbund mit nicht minder schwammigen Partnerbegriffen wie Selbstregulierung und Selbstverantwortung - zumindest als Allzweckwaffe gegen überzogene Regulierungsansprüche von Staatenlenkern einsetzen lässt, die selbst bei der Medien(r)evolution nicht mehr ganz mitkommen.
Hehre Ziele hatten sich nun die transatlantischen Veranstalter des 21st Century Literacy Summit gestellt. Die gerade 25 Jahre alt gewordene Bertelsmann Stiftung sowie ihre deutlich jüngere Schwesterorganisation von AOL Time Warner wollten nichts weniger als eine "Neue Medienkompetenz" und damit Möglichkeiten vorstellen, aus Lehrern, Schülern und Arbeitnehmern "mündige Medienbürger" mit Teilhabechancen an der Informationsgesellschaft zu machen.
Dazu legten sie nicht nur ein gut 100-seitiges Weißbuch vor, sondern luden neben rund 300 Konferenz-Teilnehmern auch Politprominenz wie die ehemalige US-Außenministerin Madeleine Albright, EU-Kommissar Erkki Liikanen, den amtierenden EU-Ratspräsident José Maria Aznar López sowie Bundeskanzler Gerhard Schröder in die traute Runde als Redner ein. Natürlich ließ es sich da auch Steve Case, Vorsitzender der AOL Time Warner Foundation und Chef des dazugehörigen Konzerns, nicht nehmen, seine Sicht der zukünftigen Navigation durch konvergierende Medienumwelten zu schildern.
Des Kaisers neue Kleider
Das von den Medienexperten der Stiftungen gemeinsam mit amerikanischen Politikberatern sowie dem Leiter des Europäischen Medieninstituts Jo Groebel verfasste Weißbuch ist eine Mixtur aus Statistiken, zahlreichen "Best Practice"-Beispielen und sich im Allgemeinen verlierenden "Empfehlungen". Ausgangspunkt ist natürlich, dass die Menschen in der vernetzten Welt neben Lesen, Schreiben und Rechnen andere Kulturtechniken zum Umgang mit Informationen beherrschen müssen. Dazu gehört den Autoren zufolge zunächst "die Beherrschung der verschiedenen IT-Tools zur Informationssammlung und -speicherung." Doch mit dem Herumhacken auf dem Computer ist es nicht getan. Entscheidend seien auch die Fähigkeiten, "gezielt und erfolgreich Informationen zu recherchieren und zu bewerten" sowie sie verarbeiten und "auf verständliche und nützliche Art und Weise weiterverbreiten zu können".
Das vermeintliche neue Konzept der Medienkompetenz hat demnach vier Ausprägungsformen: Gefordert werden neben der technologischen und der selektiven Kompetenz auch die kreative Kompetenz, selbst zum Produzenten und Anbieter werden zu können, sowie eine "soziale Kompetenz", mit deren Hilfe sich die gesellschaftlichen Folgen der Mediatisierung einschätzen lassen. Daraus ergibt sich im Idealfall die Übernahme der Verantwortlichkeit, vor allem im Bereich des immer wieder strittigen Jugendmedienschutzes (Sexsites weiter voll "auf Sendung"). Herauskristallisieren soll sich dieser Ansatz in den drei zentralen Lebensbereichen Bildung, Berufsqualifikation am Arbeitsplatz sowie dem Engagement in der Gesellschaft.
Wieso ein derart traditioneller Ansatz "neu" und "21st-Century"-gemäß sein soll, bleibt ein Geheimnis der Verfasser des Weißbuchs. Denn die Sichtweise, Medienkompetenz einerseits als Anforderung an die Nutzer und andererseits als Appell zur Förderung individueller Handlungsfähigkeiten zu begreifen, liegt den meisten durchgeführten Maßnahmen zur Kompetenzvermittlung bereits seit Jahren zugrunde, wie eine Forschergruppe des Wissenschaftlichen Instituts für Kommunikationsdienste bereits im Jahrbuch Telekommunikation und Gesellschaft 1998 ausführt.
Das neue Bürgertum
Als Novität im Zusammenhang mit der Medienkompetenz bleibt da höchstens noch die Skizze des E-Demokratie-gestützten "neuen Bürgertums" übrig. Politisch engagierte Bürger verfolgen demnach ihre politischen Interessen verstärkt durch die "direkte Kommunikation mit den Politikern über E-Mail". Die gleichen Instrumente, mit denen der kompetente Nutzer online shoppt oder mit dem Geschäftspartner verhandelt, setzt er demnach auch ein, "um Spenden zu sammeln, politischen Protest zu äußern, um für Unterstützung zu werben oder sich in lokalen oder globalen Fragen zu engagieren".
Schön gesagt, aber an der Realität der Staatsbürokratie doch glatt vorbei? Nicht ganz, sagt Madeleine Albright. Kaum hatten hilfreiche Geister der resoluten, aber zumindest vom Wuchs her etwas kleinen Dame das obligatorische Schemelchen am Rednerpult in Berlin untergeschoben, legte die sich selbst als erste wahre Außenministerin des cyberianischen 21. Jahrhunderts sehende Politikerin los. Die Regierungen, so die Insiderin, die während ihrer Amtszeit nach eigenen Angaben als erste Ministerin eine Website hatte und dort den Kindern in der Rubrik "Reisen mit Madeleine" Erdkunde beizubringen versuchte, "operieren in einem vom Wandel getriebenen Umfeld". Der Wandel selbst rühre vor allem vom Internet her. Prioritäten würden daher "immer öfter von der Basis her gesetzt".
Auch die Taliban hatten eine Website
Das erfuhr die US-Regierung vor allem während der Welthandelskonferenz in Seattle Ende der Neunziger, führte Albright aus. Die Gegendemonstrationen hätten alle Planer und die Polizei vollkommen überraschend getroffen. Schließlich sei alles klammheimlich übers Internet organisiert worden, "mit dem Klicken von Mäusen". Seitdem sei klar, dass "die internationale Agenda nicht mehr länger nur durch die Regierungen festgelegt wird". Das Netz stelle die Staaten daher vor die zwingende Entscheidung, sich entweder wie Amerika dem freien Informationsfluss und dem Markt zu öffnen oder sich zu isolieren und damit katastrophal zu enden.
Noch sei aber nicht klar, ob das Internet wirklich der mediale "Durchbruch" hin zu einer neuen Zivilisation sei oder ob es sich letztlich nur in die Reihe der anderen Basistechnologien und -medien einordne. Nicht alles, was das Internet ermögliche, sei edel, gerecht und gut. "Die Taliban hatten ihre eigene Webseite", schüttelte sich die ehemalige Außenministerin vor Entsetzen. Die Terroristen hätten übers Netz Geld und Informationen ausgetauscht und würden es jetzt benutzen, um sich neu zu gruppieren (New York Times: Terroristen benutzen Email).
Welche soziale Wirkung das Internet habe, gab Albright dem andächtig lauschenden Steve Case und der versammelten Medienexpertengemeinde zu bedenken, "hängt nicht von der Technologie ab; sondern von uns." Helfen könne uns das Internet nur, wenn wir im Kopf behalten würden, dass es Dinge zwar beschleunigen, allerdings selbst keine Richtung vorgeben könnte. Gefordert sei daher Führungskraft, schloss Albright in bester amerikanischer Manier und stieg vom Schemel herunter.
Dass die Internet-Technologie letztlich nur ein Mittel zu allen möglichen Zwecken ist, war spätestens mit der Rede der Grand Dame der vernetzten Außenpolitik allgemeiner Konsenspunkt in Berlin. Die "eigentliche Herausforderung", befand auch der EU-Kommissar für Fragen der Informationsgesellschaft, Erkki Liikanen, sei im Bereich der medienkompetenten Politik die grundlegende Reform des öffentlichen Sektors. Dabei müssten sich die Regierungen noch deutlich stärker anstrengen und den Einsatz des Internet maximieren. "Die meisten Behörden haben inzwischen zwar wundervolle Websites, doch die Interaktivität geht ihnen ab." Die immer wieder beschworene, in der Praxis aber nur langsam voranschreitende Öffnung der Regierungen und die stärkere Bürgerbeteiligung "wird mein Leben zudem schwieriger machen", fügte der finnische Kommissar mit einem Schuss Humor an (Was ist dem Informationsfreiheitsgesetz zugestoßen?).
Im Supermarkt ummelden
Dem Weißbuch zufolge mangelt es im E-Politikalltag aber nicht nur an begrenzten Aufnahmekapazitäten, sondern vor allem an zentralen Koordinationsstellen fürs die Verwaltungsvernetzung und am Aufbau von neben Formularen auch Partizipationsmöglichkeiten bereithaltenden Portalen zum "One-Stop-Government." Als eine der rühmlichsten Ausnahmen bezeichnen die Stiftungen das Leitprojekt der britischen Regierung, UK Online. Der E-Beauftragte der Insel, Andrew Pinder, durfte denn auch das englische Erfolgsrezept darstellen.
Ein Kerngedanke der Londoner ist es demnach, nicht nur "die gesamte Wirtschaft hinter dem Projekt zu versammeln". Pinder schwebt darüber hinaus nichts Geringeres vor, als die Verwaltung quasi selbst zu "kannibalisieren": Das angeblich "Gott gegebene Recht" der Verwaltungen, Dienste wie das An- und Ummelden oder die Passausgabe nur in Eigenregie zu verantworten, will der E-Envoy zu den verstaubten Akten legen. Derlei Aufgaben könnten beispielsweise Supermärkte oder andere "Provider" im Auftrag der Regierung genauso gut und deutlich bürgernäher erledigen.
Ein paar nette Anregungen für transatlantische Politiker gab es auf dem "Summit" also allemal. Ob das aber den gesamten Aufwand bis hin zum Sponsoring der Hotelunterkünfte für die gesamten Konferenzteilnehmer rechtfertigte? Im Kern der Sache gewiss nicht, da zumindest das den versammelten Medieninteressierten in die Hand gedrückte Weißbuch am Ende des Tages nur am Rande Substanz bietet. Als Kopfkissenunterlage für Politiker, wozu es dem Kanzler am besten geeignet schien, mag es noch taugen. Inhaltlich bahnbrechende Richtlinien finden sich darin allerdings nur wenige.
Kein Wort über Macht und Besitzverhältnisse im Medienmarkt
Völlig ausgeklammert wird zudem die Tatsache, dass "Medienkompetenz" in seiner begrifflichen Reichweite ein Stück Demokratietheorie umreißt. Nicht ganz umsonst war und ist von den Medien ja auch als "vierte Gewalt" im Staat die Rede. Und gerade Oligopole im Medienbesitz und die Lenkung von Informationsströmen durch private und öffentliche Interessen, warnt der Bielefelder Medienpädagoge Dieter Baacke, könnten den freien Blick auf die medial vermittelte Welt schnell zu einem unfreien machen.
Dafür bietet das Weißbuch neben Lächerlichkeiten, wie der Feststellung, dass "die meisten Internet-Nutzer den Großteil ihrer Zeit (ungefähr 70 Prozent) noch immer offline verbringen", auch ein paar skurrile Forderungen wie einen allgemeinen Ruf nach mehr Ethik im Netz, um staatliche Eingriffe in die Informationsfreiheit zu verhindern. Etwas blauäugig wirkt in diesem Zusammenhang etwa die pauschale Bekundung, dass "junge Menschen" auch in einer das Downloaden, Duplizieren und Verbreiten von Informationen einfach machenden digitalen Welt lernen müssten, "Copyright-Bestimmungen einzuhalten und zu respektieren".
Kein Wunder, dass der vom Medienpolitiker zum Medienforscher gewandelte Peter Glotz angesichts der allgemeinen Ernüchterung rund um die Realisierbarkeit der Chancen des Internet die ganzen "Sprüche" nicht mehr hören kann. Doch dem E-Pessimismus will Ingrid Hamm, Leiterin der Medienabteilung der Bertelsmann Stiftung, mit einem "nationalen Umsetzungsplan" auf Basis des Weißbuchs entgegenwirken. Neben dem Global Business Dialogue on Electronic Commerce, einem Debattierclub führender Industrie- und Mediengiganten unter der Ägide Bertelsmanns, soll unter dem Aufhänger Medienkompetenz ein vergleichbarer Dialog zur Informationsgesellschaft den Kongress fortsetzen. Den internationalen Spitzenpolitikern haben sich die Konzernstiftungen jedenfalls als Gesprächspartner mit Nachdruck präsentiert. Was bleibt da an Wünschen offen?