Medienkritik: Es lebe das Doppelmaß!

Bild: Ket Quang, freeimages.com

Die Kritik am russischen Sender RT DE wirkt schlüssig, wenn man sich politisch und moralisch auf der richtigen Seite wähnt. Eine Polemik mit Faktencheck

Kaum ist der Jubel um das Deplatforming von KenFM verraucht, da fallen die Reaktionen auf das Abschalten des russischen Auslandssenders RT DE und dem Sendeformat Der fehlende Part durch Youtube ähnlich kurzsichtig aus. Ich hoffe zur Ehrenrettung der journalistischen Zunft, dass das Schweigen oder gar Bejubeln der Zensur-Maßnahme an purer Angst liegt und nicht etwa an Einfältigkeit.

Angst wäre noch am verständlichsten, denn jeder kritische Stellungnehmer setzt sich des Verdachts der Gemeinmachung aus – natürlich nur, weil wir es verlernt haben, strukturelle Missstände unabhängig vom Gegenstand zu benennen bzw. diejenigen, die ein solches Strukturproblem erkennen, nicht gleich in einen Topf zu werfen mit dem Inkriminierten. Nein, man muss kein Freund von RT sein, um die Entwicklung bedenklich zu finden.

Der Gefahr muss sich aber aussetzen, wer die viel größere Gefahr erkennt, die sich hier Bahn bricht. Wer die Newsletter des Instituts für Medienverantwortung verfolgt, weiß, dass wir auf RT als Quelle nicht angewiesen sind, um kritisch zu den populären Mediendebatten Stellung zu nehmen.

Dennoch oder gerade darum – denn es sollte ja im Sinne der Meinungs- und Pressefreiheit nicht an der eigenen Meinung liegen – gilt es hier auf das neue Zensur-Modell aufmerksam zu machen, das der US-Konzern Google mit seiner Videoplattform Youtube implementiert. Denn es kann jeden treffen, auch wenn es die wohlfeilen "Guten Medien" noch nicht erkennen mögen.

Die Selbstgefälligkeit des ZDF

Wieviel Kritik und Gegenbürsten wollten wir uns als Demokratie noch leisten? Oder reicht es, wenn wir diese "Werte" gegenüber anderen in Stellung bringen? Auf Anfrage von Telepolis an das ZDF, warum man im Heute Journal am 29. September 2021 so unkritisch über das Deplattforming von RT DE berichtet habe, und zwei vermeintliche Fake-News als kronzeugenhaften Beleg für die Richtigkeit der Entscheidung ins Feld führte, gab es eine historische Antwort.

Es geht dabei um zwei Aussagen von Politikern, ob Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gesagt habe, dass wir "den Gürtel enger schnallen müssen" oder nicht. Und ob der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach gefordert habe, Sport zu verbieten.

Die Überprüfung habe ergeben, so das ZDF, dass Steinmeier das Zitat wörtlich so nicht gebracht habe, und dass bei Lauterbach der Kontext fehle – das Zitat also nur falsch sei, weil es ohne Kontext verzerrend wirke. Das sind Kleinigkeiten und dürften kaum als Beweise für gefährliche Verschwörungen bezüglich der Corona-Pandemie ins Gewicht fallen.

Warum aber kapriziert sich das ZDF auf diese Belanglosigkeiten und bedient damit den Verdacht, dass man mit Faktenchecks schön an relevanten Aspekten vorbeirecherchieren kann?

Nun hat das ZDF zudem eine eigene Geschichte mit voreiligen Schlüssen – zum Beispiel zur Ukraine-Krise 2014 – der unkritischen Kolportierung übersehener Nazi-Symbole und Missdeutungen von Quellen, wofür Bellingcat und das sogenannte SITE-Institut exemplarisch stehen.

Ja, man dürfte hier von Fake-News oder zumindest Faktenverdrehungen sprechen. Beim SITE-Institut fällt das besonders ins Gewicht, weil ZDF-Nachrichten-Chef Elmar Theveßen selbst die Unseriösität der Quelle recherchierte. Nach einem kurzen Schreckensmoment greift man wieder zu diesen unseriösen Quellen, weil sie so gut ins eigene Framing passen? Und dann stellt man Qualitätsansprüche an andere, die für einen selbst nicht gelten sollen?

Die Fehlleistungen der ARD

Auch für die ARD scheinen üblicherweise nicht die gleichen Maßstäbe zu gelten wie für diejenigen, die man kritisch in den Blick genommen hat. Erinnert sei an die verzweifelt-komischen Rechtfertigungsversuche des ehemaligen Nachrichten-Chefs von NDR-aktuell, Kai Gniffke, der für die Nachrichtenformate Tagesschau und Tagesthemen verantwortlich zeichnete, als es einige Ungereimtheiten in der Ukraine-Berichterstattung gab.

Es ging damals um leere Stadien, die als volle inszeniert wurden, falsche Hubschrauber, die nicht in der Ukraine, sondern in Syrien abgestürzt waren, und der Wiederholungsschleife von "entführten OSZE-Beobachtern".

Im Leugnungsmodus postete Gniffke nach Kritik hilflose Erklärungsversuche, warum man die Bundeswehrsoldaten – obwohl nicht von der OSZE entsandt – dennoch "OSZE-Beobachter" nennen dürfe. Kurz: Weil das andere Medien auch tun, war der Tenor eines seiner Einträge auf dem Tagesschau-Blog, der heute nur noch über das Internet-Archiv erreichbar ist. Fakt bleibt: Es waren Fake-News und sie hatten politische Folgen bis heute.

Inzwischen wurde Gniffke auf den Posten des Intendanten des SWR befördert.

Von BILD und anderen Fake-News

Erinnert sei auch an die Wulff- und Bamf-Skandale, die vorwiegend von Springers BILD befördert wurden, mit erheblichen Folgen für die Politik in Deutschland.

Sprechen muss man in diesem Kontext auch über Kriegslügen, wie die, die uns in den 1990er-Jahren auf den Balkan führten, oder die die Irak-Kriege 1991 und 2003 ermöglichten sowie den Afghanistan-Krieg verlängerten.

Zuvor hatte man sich medial jahrelang brav daran gehalten, nicht Krieg zu nennen, was ein Krieg ist. Bis heute tun wir uns schwer, Kriegspropaganda als das zu entlarven, was sie ist: Fake-News.

Mit Bild-TV wandern die üblichen Fake-News nun auch auf Youtube. Wird in Zukunft der Presserat eine noch größere Feigenblattfunktion erhalten, wenn BILD weiterhin folgenlos gerügt wird? Weil das Gremium am Ende Youtube davon abhält, hier die gleichen Maßstäbe anzuwenden, wie bei KenFM, RT und dergleichen?

Der Präzedenzfall des Gründers der Enthüllungsplattform Wikileaks, Julian Assange, dies als Abschreckungsbeispiel, wenn man herrschende Diskurse entlarvt, ist jedoch viel weniger ein Thema in den genannten Medien, die sich als Hort der vierten Gewalt imaginieren.

Assange trifft es viel härter als alle, die ihre Stimme via Youtube verlieren – obwohl natürlich auch das demokratietheoretisch diskutiert werden müsste –, aber auf ihn ist der Angriff physisch.

Der Protest gegen seine Inkriminierung, unter Nennung der herrschenden Anti-Aufklärungsstrukturen, findet zu nicht unerheblichen Anteilen auf Youtube statt. Noch.

Wird man auch den Aktivistengruppen dort bald Fake-News, Antisemitismus oder Irreführung der Öffentlichkeit vorwerfen? Mindestens Reporter ohne Grenzen, die sich für Assange’s Freilassung einsetzen, müssten also hier alarmiert sein über die sich ankündigende Verengung der Zulassung an Gegenstimmen und Kritik, die in allgemeinen Medien nicht den angemessenen Platz finden.

Das Feindbild Russland kommt aus der EU-Kommission

Ob die Auswahl von RT DE – die sowohl bei Covid-19 als auch weiteren Themen im Vergleich zu anderen medialen Akteuren nicht die extremsten Sichten wiedergibt – etwas mit der geopolitischen Ausrichtung der EU-Kommission zu tun hat, muss sicher noch eingehender recherchiert werden. Auch, warum das Thema überhaupt verfängt, wo doch Russland nicht wesentlich eine andere Corona-Politik verfolgt, wie der sogenannte Westen.

Es gibt Hinweise darauf, dass sich hier eine unheilvolle Kooperation zwischen EU und Nato anbahnt, die sich ehrlicherweise "strategische Kommunikation" nennt, aber von manchen Medienhäusern gerne als "Aufklärung gegen Desinformation" aufgegriffen und verbreitet werden - ganz ohne Faktencheck.

Hier gäbe es zu tun für die Kollegen, die sich mit falschen Steinmeier-Zitaten und verzerrten Lauterbach-Aussagen beschäftigungstherapieren lassen.

In dem Kontext wäre auch zu recherchieren, ob die vielen Investigativ-Teams und Faktenchecker, die seit einigen Jahren aus dem Boden sprießen, nicht eine direkte Folge der Ukraine-Krise 2014 sind - als von einer breiteren Öffentlichkeit die Mediendarstellungen in Frage gestellt wurden.

Sie erschienen zu einhellig antirussisch, was schließlich ein Gutachten des ARD-Programmbeirats bestätigte. Auch die East StratCom Task Force, ein Kooperationsprojekt zwischen EU und Nato wurde in diesem Zeitraum, 2015, gegründet, und schreibt sich neue Rahmenpläne für Berichterstattung auf die Fahnen.

Die Neuausrichtung der Deutschen Welle

Als Sachverständige nahm ich im genannten Zeitraum am Kulturausschuss im Bundestag teil und wurde Zeugin der Pläne zur politischen Neuausrichtung der Deutschen Welle – als PR-Werkzeug für das Deutschlandbild im Ausland, etwas anmaßend mit Blick auf vergleichbare US-Formate.

Nachdem Deutschland ja seit dem Jugoslawien-Krieg "seine Verantwortung im Ausland" vermehrt wahrnehmen möchte, bildet die Deutsche Welle die mediale Speerspitze der (nicht-militärischen) Propaganda – oder neudeutsch "Soft Power".

Wenn wir nach dem genauen Unterschied zu Staatssendern wie RT DE fragen würden, bekämen wir vermutlich zur Antwort: die Werte.

Gerne, das nehmen wir auf und an. Bitte die gleichen Werte und Qualitätskriterien für alle!

Sabine Schiffer leitet das unabhängige Institut für Medienverantwortung (IMV) in Berlin. In ihrem Lehrbuch "Medienanalyse" stellt sie das notwendige Handwerkszeug für die Analyse von Medienbeiträgen zusammen. Das IMV richtet sich an Medienschaffende und Mediennutzende gleichermaßen und klärt über Darstellungsmechanismen, Medieninhalte und Produktionsbedingungen auf und bietet Medienbildung in Seminaren, Publikationen und Konzepten.

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