Medienzirkus EM: Zwischen Schienbeinschützer-Details, Sex und geopolitischer Bedeutungsrangliste

Niederländische Fans auf dem Fanmarsch zum Berliner Olympiastadion

Niederländische Fans auf dem Fanmarsch zum Berliner Olympiastadion, 25. Juni 2024. Bild: Mo Photography Berlin / Shutterstock.com

Während die ARD Spielerstiefel durchleuchtet, zeichnet das Turnier eine klare Linie zwischen europäischen Fußballmächten und den anderen. Wer die Favoriten sind.

Besser, als sich zu erschießen.

Hajo Schumacher bei "Markus Lanz" über die "vielen Mannschaften vom Balkan" bei der EM

Der Kopf ist das dritte Bein.

Christoph Daum

Man könnte die Fußball-EM auch als eine Art öffentlicher Vorführung der geopolitischer Bedeutungsrangliste ansehen. Osteuropäer dürfen mitspielen, aber nur, damit ihnen am Ende ihr Platz zugewiesen wird. Jetzt sind die osteuropäischen Mannschaften – Kroatien, Polen, Albanien, Serbien, Georgien, weitere wird es heute erwischen – weitestgehend ausgeschieden, Europas Fußball Elite ist bisher ohne Ausfall wieder unter sich.

Nur die Ukrainer haben noch Chancen. Und Ukrainer sind besonders gefährlich und widerstandsfähiger, als man denkt – das muss man in diesen Tagen niemanden erklären, und die Belgier werden es merken.

Trotzdem gehört Belgien, wie in der letzten Folge dieser EM-Notizen ausgeführt, zum engeren Favoritenkreis.

Schuhberichterstattung auf der ARD

Neulich kurz vor der EM war Bastian Schweinsteiger bei Heidi Klum zu Gast zum Finale ihrer, wie heißt sie noch gleich, Castingshow. In einem Bericht über die Sendung hieß es:

Die Szenen mit Schweinsteiger zeigen, wie absurd diese Show ist. Denn immer, wenn Schweinsteiger etwas sagt, lässt er ein bisschen Realität in die Veranstaltung und es fühlt sich an wie ein kleiner Stoß Frischluft, wenn einem schon ein bisschen schwindelig ist vor lauter Sauerstoffmangel. Ein Beispiel? Klum fragt Schweinsteiger: "Bastian, hast du schon mal einen TikTok-Dance gemacht?'"Schweinsteiger verneint und fährt fort: "Ich hoffe, es bleibt dabei."

Vor dem Spiel der Deutschen gegen die Schweiz gab es auf der ARD eine Visite in der Mannschaftskabine (ohne Mannschaft) und dort Schuhberichterstattung durch Lea Wagner. Sie erzählte von den Nationalspielern Dinge, die wir nie zu fragen warten und die wir auch nie wissen wollten: Etwa welche Fotomotive ihre Schienbeinschützer schmücken. Und auch Schweinsteiger war entgeistert: "Ich hatte kein Familienalbum auf meinen Schienbeinschützern."

Harry Kane ist kein Beckenbauer

Vor 50 Jahren ging "die Nacht von Malente" in die Fußball-Geschichte ein: Als Reaktion auf die unerwartete Niederlage gegen die DDR übernahm Franz Beckenbauer als Kapitän der deutschen Nationalmannschaft in dieser Nacht im deutschen Trainingslager das Regiment von Bundestrainer Helmut Schön. Er stauchte seine Mannschaftskameraden zusammen, veränderte die Aufstellung und schuf so jenen Mannschaftsgeist, der in der Lage war, zwei Wochen später die spielerisch überlegenen Holländer im Finale zu besiegen.

Haben nun auch die Engländer ihre "Nacht von Malente" erlebt? Es hieß zumindest, der in Deutschland vergötterte britische Stürmer Harry Kane hätte sich mit der Mannschaft ohne Trainer getroffen und Tacheles geredet.

Jeder weiß, dass der britische Nationaltrainer Gareth Southgate auch im eigenen Land schwer umstritten ist und nach der EM sein Hut nehmen muss – es sei denn, am Ende langt es doch noch für den EM-Titel. Danach sieht es bisher absolut nicht aus.

Und insofern kann man spätestens nach dem dritten Gruppenspiel aus dieser Erzählung lernen, dass auch eine Nachtsitzung nicht immer das Richtige ist. Um dem Trainer die Führung aus der Hand zu nehmen und zum Titel zu kommen, braucht man schon einen außergewöhnlichen, genialen Spieler wie Franz Beckenbauer.

Mädchen im Pool und Pudeltattoos auf dem Hintern

Sex im Trainingslager war damals tabu. Und es geht die Legende, dass die Holländer die WM 1974 vielleicht nur deswegen verloren haben, weil Superstar Johan Cruyff seinerzeit mitten in der Nacht mit einem deutschen Journalisten und zwei namenlosen deutschen "Mädchen" im Swimmingpool des Teamhotels gesichtet wurde – einen Tag später schrieb die Bild-Zeitung darüber, und Johan Cruyff musste die darauffolgende Nacht damit verbringen, seine in Holland gebliebene Ehefrau am Telefon zu beruhigen.

Heute, im puritanischen Jahr 2024, ist alles anders. Da haben die Spieler ihre Pudel, Kinder und Ehefrauen als Fototapete auf den Schienbeinschützern und vielleicht noch als Tattoo auf dem Hinterteil. Und die Ehefrauen kommen an freien Tagen ins Lager.

Nach wie vor ist die Fußballlehre sich uneins darüber, ob Sex die Spieler für ihre nationale Aufgabe schwächt oder eher stärkt, weil sie dann "lockerer" und "entspannter" werden. Die deutsche Ärztezeitung besteht jedenfalls darauf, dass ein oder zwei Stunden vor dem Spiel Sex "nicht ratsam" sei.

Engländer ohne Ideen

Mit oder ohne – die beiden großen Enttäuschungen dieser WM sind Frankreich und England. In unterschiedlicher Ausprägung.

England hat seinen Stresstest eindeutig nicht bestanden, obwohl sich die englische Gruppe C als die Gurken-Gruppe schlechthin entpuppte. Es würde "zu dieser Gruppe passen", wenn am Schluss die Faiplay-Wertung und nicht Spielerfolge über die Platzierung entscheiden würden, wusste ZDF-Experte Christoph Kramer schon vor dem Spiel.

Alle Experten sind sich einig. Die Engländer haben bisher keine Spielidee.

Im "Doppelpass" bedauerte Stefan Schor: "Der englische Fußball hat komplett seinen Charakter verloren, sie versuchen alles nur noch spielerisch zu lösen." Die Engländer haben sich zurückentwickelt und besitzen keine Spielideen mehr.

Kramer: "Es geht um die Ideen, die sie haben. Und die Ideen sind nicht passend. Sie machen auch nichts als Team. Der Plan der Engländer ist einfach nicht gut. Ich hätte niemals gedacht, dass sie noch das dritte Mal wieder mit dieser Aufstellung kommen."

"Das ist schon verheerend"

Zum bisher mit Abstand schlechtesten Spiel der ganzen EM wurde dann das 0:0 zwischen England und Slowenien. Prophetisch verkündete Kramer vor dem Spiel: "Es ist ein reines Glücksspiel. Es wird genau das gleiche Spiel werden wie gegen Serbien und gegen Dänemark. Sie werden 1:1 spielen, oder 0:0, vielleicht werden sie zwei eins gewinnen, vielleicht werden sie eins zu zwei verlieren."

Und in der Halbzeit wütete Kramer dann weiter: Trainer Gareth Southgate habe keinen Plan im Kopf, "er setzt sich einfach dahin, er macht nichts, er verändert nichts, keine Winkel, keine Systemanpassung. Die Spieler tun mir leid, da kannst du ein Spielermaterial haben, wie du möchtest, wenn du so in ein Spiel geschickt wirst, hast du keine Chance und die Slowenen – Glückwunsch an die Slowenen – die haben es ja auch richtig schlecht gemacht. Die haben alles dafür getan, dass sie dieses Spiel trotzdem gegen wirklich schlechte Engländer verlieren."

Per Mertesacker sekundierte: "Die Slowenen haben eine Riesenchance, die Engländer jetzt zu schlagen. Die Unfähigkeit von England anzulaufen und Bälle zu gewinnen, ist sehr schlimm anzusehen. Das ist schon verheerend."

"Can they all go to Dubai for a week or so for a holiday?"

Und das alles war noch harmlos gegen die Berichterstattung auf der Insel: Im Liveblog des Guardian hieß es:

Bellingham ist furchtbar für England ... er ist ein großer Teil von Englands Problem ... England spielt wie Arsenal in dieser Saison vor der Winterpause – träge, ideenlos, und wirft den Ball vage in Sakas Richtung, in der Hoffnung, er könne etwas aus dem Nichts schaffen ... Können sie nicht alle für eine Woche oder so nach Dubai in den Urlaub fahren? Sie könnten Ben White auf dem Rückweg abholen. ... Kane und Bellingham waren beunruhigend ruhig. ... wie oft landet ein unambitionierter Pass Englands direkt vor den Füßen eines Spielers, der stillsteht, ... Keine Bewegung, völlig vorhersehbar und in der Regel so langsam, dass sich die Verteidigung bereits darauf eingestellt hat, bevor der annehmende Spieler einen Schritt macht. ... Einfach frustrierend anzuschauen.

Der französische Knoten

Auch mit Mbappé haben sich die Franzosen wieder im dritten Spiel sehr schwergetan und wieder kein Tor aus dem Spiel erzielt. Zu Buche stehen ein Elfmeter und ein Eigentor.

Hier war Christoph Kramer gnädiger: "Ich sehe die Franzosen gar nicht so kritisch. Ich habe Frankreich auf dem Zettel. Sie haben in jedem Spiel vier, fünf hundertprozentige Chancen. Sie spielen einen besseren Fußball als vor zwei Jahren."

Und Kramer hat sehr viel Mitleid mit Mbappés Maske zum Nasenschutz. "Sie drückt die ganze Zeit und sie stinkt auch richtig, das ist so ein komisches Material, das stinkt wahnsinnig eklig."

Aber geplatzt ist der französische Knoten noch nicht.

Italien tut, was Italien tut

"Ein gutes Pferd springt nur so hoch, wie es muss", lautet ein altes Sprichwort. Darum gehört Italien unbedingt zum engeren Favoritenkreis. Denn Italien hat wieder getan, was Italien tut. Und wofür sie von den einen geliebt und von den anderen gehasst werden: Sie haben genau das Ergebnis eingefahren, was sie brauchten.

Chris Kramer schwärmte von Abwehrspieler Calafiori: "Wenn ich ein Topverein wäre, würde ich alles Geld, das ich habe, nehmen für ihn. Alles, was er macht, ist super gut. Calafiori ist bisher mein Lieblingsspieler von dieser EM."

Italien hatte sich gegen die Kroaten erstmal zurückhalten, und die Kroaten nur sporadisch mit der Fünferkette angelaufen. Dann gab es schnell gute Ballgewinne. So wurden die Kroaten gegen Ende in die Defensive gedrängt, und aus dem Turnier gekegelt.

Intensität und Autokratie: Fußball ist kein demokratisches System

Fußballerisch wahrscheinlich am beeindruckendsten bei dieser WM und tatsächlich auch innovativ ist der österreichische Fußball. Auch wenn wir das alles schon kennen von Red Bull Leipzig und Salzburg, ist es in Österreich zur Perfektion und zur größten Konsequenz gereift. Rangnick lässt die offenbar extrem konditionsstarke Mannschaft die Holländer mit einer 4-2-4-Aufstellung sehr früh angreifen.

Dieses aggressive, direkte Spiel, das auch einfach wirklich schön anzusehen ist, setzte dann ausgerechnet Schönheit gegen die auch schön spielenden Holländer. Deren schon in den 1970er-Jahren zur Perfektion entwickeltes System treiben die Österreicher auf die Spitze treibend und ergänzen es durch noch früheres Attackieren.

Marcel Sabitzer brachte es auf den Punkt: "Die Intensität ist das Entscheidende. Wenn du Niederlande schlägst, dann kannst du nicht ganz so schlecht sein."

Mit solchen Triumphen belegte Ralf Rangnick auch, was er schon in Ulm, Schalke, Hannover, Hoffenheim, Leipzig bewiesen hatte: Ein Mann kann alles verändern. Nicht das System, nicht die Produktionsverhältnisse entscheiden, sondern Organisation und Hierarchie, Gefolgschaft und die Freiheit einer Person, seine Vision ungestört und ohne Controlling in die Tat umzusetzen. Fußball ist kein demokratisches, sondern ein autokratisches System.

Deutschland = vulgäres Design + Baustellen

Das Bild, dass die internationalen Gäste von Deutschlands Hauptstadt bekommen, sieht folgendermaßen aus: Die Rolltreppen funktionieren zu ca. 50 Prozent nicht, S-Bahnen fallen regelmäßig aus, Straßenbahnen sind in Ostberlin-Mitte in dieser Woche komplett lahmgelegt, weil man irgendetwas gleichzeitig reparieren muss, was unbedingt während der EM repariert werden muss. Unter anderem auch bei einer Linie (M1), die erst vor zwei Monaten nach einem halben Jahr Pause wiedereröffnet wurde.

Auf den Straßen der Stadt ist Stau oder zähflüssiger Verkehr der Normalfall. Überall gibt es Baustellen. Uberall ist irgendetwas gesperrt oder mit Bauzäunen zugestellt, überall ist etwas aufgerissen. Davor hängen dann irgendwelche total vulgär designten Werbevorhänge, für die die Gerüstebauer Zehntausende von Euro im Monat kassieren.

Deswegen gibt es auch kein Interesse daran, die Gerüste möglichst schnell wieder abzubauen. Das Verkehrschaos wird dadurch verstärkt, dass der mittlere Teil Berlins rund um das Brandenburger Tor, Reichstag, Pariser Platz und sowjetische Panzerdenkmäler komplett zugestellt und verbaut ist durch die Fanmeile und Sendestudios der ausländischen Sender, die niemals ein deutscher Sender aufbauen dürfte. Im Umwelt-Vorzeigeland Deutschland besteht diese aus mit Mikroplastik schleuderndem Plastikkunstrasen.