Mehr als Germanenkult: Was Rechtsterroristen mit der "Artgemeinschaft" zu tun hatten

Szene-Anwalt und Multifunktionär: Jürgen Rieger leitete die "Artgemeinschaft", als Beate Zschäpe an einer seiner Tagungen teilnahm. Foto: Marek Peters / www.marek-peters.com / CC0 1.0

Beate Zschäpe und der Mörder von Walter Lübcke hatten Verbindungen zu dem nun verbotenen Verein. Was noch zu dessen Kerngeschäft gehörte.

Das Wort "Artgemeinschaft" weckt zoologische Assoziationen, was in Antifa-Kreisen immer wieder Gegenstand von Witzen war, obwohl die "Artgemeinschaft – germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e. V." dort schon lange vor ihrem Verbot als gefährliche Neonazivereinigung eingeschätzt wurde.

Rassistisches Elitendenken und Antisemitismus waren hier Programm – es ging erklärtermaßen um die Reinheit der germanischen "Rasse". Diese Ideologie wurde neben der neuheidnischen Brauchtumspflege an den eigenen Nachwuchs weitergegeben; und das seit der Gründung der "Artgemeinschaft" 1951.

Aussteigerin schilderte Gehirnwäsche vor mehr als zehn Jahren

Die Szene-Aussteigerin Tanja Privenau hat schon vor Jahren gegenüber der Bundeszentrale für politische Bildung berichtet, was das Aufwachsen in solchen Strukturen für ihre und andere betroffene Kinder bedeutete: Abschottung von der "bösen Außenwelt", keine Treffen mit Freunden aus der Schule und kein Fernsehen, während zuhause über den "Judenfraß" in Schnellrestaurants und alle möglichen "Feinde" geflucht wird.

Die Frauen sollten möglichst viele Kinder bekommen, die so erzogen werden konnten, sie selbst hatte fünf. Eine Tochter hat sich aber inzwischen das Leben genommen.

Dass Tanja Privenau und ihre Kinder nach dem Ausstieg Schutz benötigten, sah das Oberlandesgericht Dresden im Jahr 2012 nicht ein: Es sprach dem nach wie vor neonazistischen Vater ein Umgangsrecht mit den Kindern zu. Nach ihrer Aussage war er auch innerhalb der Familie gewalttätig geworden, zum Beispiel, als die Tochter das Stück eines jüdischen Komponisten auf dem Klavier spielte.

"Widerwärtige Indoktrinierung von Kindern"

Inzwischen sind die Staatsapparate wohl sensibilisiert: In zwölf Bundesländern rückte am Mittwochmorgen die Polizei aus und durchsuchte die Räume von 39 Beschuldigten. Gefunden wurden dabei "neben Gold und Bargeld große Mengen extremistischer Literatur und Devotionalien", teilte das Bundesinnenministerium mit.

Im Zuge der Durchsetzung des Verbots seien auch waffenrechtliche Erlaubnisse aberkannt sowie Schusswaffen und Munition sichergestellt worden. Zudem seien Armbrüste und eine ABC-Schutzausrüstung gefunden und beschlagnahmt worden.

Der "Artgemeinschaft" habe versucht, "durch eine widerwärtige Indoktrinierung von Kindern und Jugendlichen neue Verfassungsfeinde heranzuziehen", teilte Bundesinnenministerin Nancy Faeser am Mittwochmorgen mit, als das Verbot mit bundesweiten Razzien vollstreckt wurde.

Der beim Registergericht Berlin-Charlottenburg eingetragene Verein mit rund 150 Mitgliedern war aber nicht nur eine kleine Parallelgesellschaft, die unter sich bleiben und die eigenen Kinder indoktrinieren wollte.

Vor allem durch die manipulativ indoktrinierende Erziehung ihrer Kinder und den Vertrieb entsprechender Literatur agierte die "Artgemeinschaft" anders, aber nicht weniger gefährlich als die neonazistischen 'Hammerskins', die wir in der letzten Woche verboten haben.


Nancy Faeser (SPD) Bundesministerin des Inneren und für Heimat

Station auf dem Weg zum Rechtsterrorismus

Aus Ermittlungsakten zum "Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU) und zum Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, deren Inhalt zum Teil durch Prozesse und Untersuchungsausschüsse öffentlich wurde, ist auch bekannt, zu wessen Radikalisierung die sektenhaften Vereinigung unter anderem beigetragen hat.

Zwei bekannte Personen, die mittlerweile wegen rechtsterroristischer Morde verurteilt sind, haben sich im Umfeld der "Artgemeinschaft" bewegt, die von den 1950er-Jahren bis zu ihrem Verbot als eingetragener Verein firmiert hat.

Der Rechtsterrorist Stephan Ernst, der 2021 für den Mord an Walter Lübcke verurteilt wurde, soll dort Mitglied gewesen sein – allerdings sei er von der "Artgemeinschaft" 2011 wegen nicht gezahlter Mitgliedsbeiträge ausgeschlossen worden, berichteten nach dem Mord an Lübcke 2019 mehrere Medien unter Berufung auf "Sicherheitskreise".

Der Kasseler Regierungspräsident hatte den Hass seines späteren Mörders schon im Herbst 2015 auf sich gezogen, weil er damals in einer Bürgerversammlung die humanitäre Aufnahme von Flüchtlingen mit den Worten verteidigt hatte "Wer diese Werte nicht vertritt, kann dieses Land jederzeit verlassen."

Zschäpe in Jürgen Riegers Kaderschmiede

Beate Zschäpe, die 2018 im Münchner NSU-Prozess als Mittäterin bei zehn Morden, zwei Sprengstoffanschlägen und mehreren Raubüberfällen verurteilt wurde, nahm im Jahr vor ihrem Untertauchen an einer Tagungswoche des damaligen Vorsitzenden der "Artgemeinschaft", Jürgen Rieger, im niedersächsischen Hetendorf teil. Da war sie bereits zur polizeilichen Beobachtung ausgeschrieben.

Im Juni 1997 wurden die damals 22-Jährige Thüringerin und andere angereiste Neonazis laut einem polizeilichen Aktenvermerk bei dem von Rieger genutzten Anwesen kontrolliert. Rieger selbst hielt dort einen Vortrag über die Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht", die er als "skandalös" und "verlogen" bezeichnete – und eine ehemalige BDM-Führerin referierte über "Fragen, die junge Menschen von unserer Generation beantwortet haben wollen".

Über seine Funktion in der "Artgemeinschaft" hinaus war der 2009 verstorbene Jürgen Rieger als Staranwalt der rechten Szene bekannt – und als langjähriger Organisator der Gedenkmärsche für Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß im oberfränkischen Wunsiedel. Zur Bundestagswahl 2005 trat Rieger als unabhängiger Spitzenkandidat auf der Hamburger Landesliste der NPD an. Die "Artgemeinschaft" leitete Rieger zwei Jahrzehnte lang – von 1989 bis 2009. Er darf wohl als Multifunktionär und Schlüsselfigur der braunen Szene zur Entstehungszeit des NSU bezeichnet werden.

Seit 2016 war der Ex-NPD-Aktivist Jens Bauer aus Sachsen-Anhalt längere Zeit Anführer der "Artgemeinschaft". Er hatte zumindest engen Kontakt zu dem NSU-Waffenbeschaffer Ralf Wohlleben und sioll ihn nach der Haftentlassung 2018 zeitweise bei sich aufgenommen haben. Wohlleben sitzt nun allerdings wieder im Gefängnis.

Nachdem er einen Großteil seiner Strafe wegen Beihilfe zum Mord in neun Fällen schon in der Untersuchungshaft abgesessen hatte, kam er nach der fünfjährigen Hauptverhandlung zunächst auf freien Fuß. Wohlleben muss aber nun doch seine Reststrafe von dreieinhalb Jahren absitzen.

Der Bundesgerichtshof hat Ende 2022 festgestellt, dass von Wohlleben weiter ein Risiko für die Sicherheit der Bundesrepublik ausgehe; zwar nicht durch eigene Gewalttaten, aber ihm sei zuzutrauen, dass er Gewalttaten aus der rechten Szene "möglichst unauffällig" unterstützen würde, falls so etwas an ihn herangetragen würde.