Menschenrecht auf Ballermann?

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Der perfekte Sturm: Das gegenwärtige Reise-Chaos macht nur sichtbar, was in jeder Hinsicht überall der Fall ist

Wir stehen vor der Sommerzeit, für viele die schönste Zeit des Jahres, die Zeit mal ein bisschen 'runterzukommen, etwas Erholung zu genießen.

Ingmar Jung, CDU/CSU-Fraktion, am 7.7.22

In der letzten Sitzungswoche vor den parlamentarischen Sommerferien sorgten sich die Abgeordneten des Deutschen Bundestags am vergangenen Freitag 39 Tagesordnungsminuten lang um ihren Urlaub.

Vor allem die fernreisenaffinen Heimatliebhaber der CDU/CSU polterten zur Begründung ihres Antrags "Fluggastrechte weiterentwickeln", als läge es an diesen Fluggastrechten, dass die gesamte Tourismusbranche unter Personalmangel leidet.

Es gibt schließlich ein Menschenrecht auf Mallorca.

Boom trifft Flaute - die Folge ist ein Orkan

Die hinter der eher populistischen Spontaninitiative stehenden Fakten zeichnen allerdings tatsächlich ein desaströses Bild: Allein 1.000 Flüge strich vergangene Woche der Billigflieger EasyJet von seinem Flugplan, in Großbritannien wurden insgesamt 10.000 Flüge gestrichen, wovon 1,5 Millionen Passagiere betroffen sein sollen, und allein im Flughafen München lagern 3.000 gestrandete Gepäckstücke. Es gab 4.000 Meldungen über Verstöße gegen Fluggastrechte nur in Deutschland in den ersten Monaten. Dies sind nur einige Zahlen der letzten Woche.

Wer ernsthaft gehofft hatte, durch die Pandemie würde sich das Reiseverhalten ändern, saß Illusionen auf: Trotz Krieg und Inflation gibt es einen Boom der Privatreisen. Bereits im Mai gab es laut an Europas Himmel wieder über 28 .000 Flüge täglich, was gut 85 Prozent des Vorkrisen-Niveaus entspricht. Im Sommer will die Lufthansa in Europa 95 Prozent des Vorkrisen-Niveaus erreicht haben. Längst reisen wieder annähernd so viele Leute wie vor der Pandemie.

Und wer geglaubt hatte, nach Corona sei der Ausnahmezustand durch die Pandemiebeschränkungsmaßnahmen allmählich vorbei, muss sich eingestehen: Er hat gerade erst richtig begonnen.

Die Reisebranche hat den Neustart verpatzt und die Chance auf Neustrukturierungen während der zwangsbedingten Flaute nicht genutzt. Anstatt dass nach den harten Coronajahren nun durchgestartet wird, bricht die Tourismusbranche unter dem vorhersehbaren Ansturm zusammen.

Einzige Ausnahme: Griechenland. Ausgerechnet in Europas-Krisen-Hotspot berichten Passagiere von nur wenigen Minuten Wartezeit an den Sicherheitskontrollen und schneller Gepäckausgabe. "Wir erleben bisher keine größeren Störungen im Flug- und Passagierverkehr", heißt es bei der Pressestelle des Athener Flughafens.

Das größte Problem: Personalmangel an allen Punkten des Reiseprozesses. Überall fehlen die Leute, die sich in der Pandemie andere Jobs gesucht haben. Von den Ticketschaltern über die Kontrolleure, von Kellnern und Köchen und Reinigungspersonal bis hin zur Flugzeugabfertigung und zur Sicherheitskontrolle.

Aber auch wer im eigenen Auto reist, leidet unter Dauerstaus, kilometerlangen Baustellen, maroden Straßen und Brücken, die wegen Einsturzgefahr nur im Schneckentempo befahren werden können.

Gehen Sie nicht über Los!

Am schlimmsten trifft es allerdings gerade den Flugverkehr. Und das längst nicht nur in Deutschland. Von Istanbul bis Lissabon, von Oslo bis Kapstadt, von New York bis Singapur ist das weltweite Reise- und Flugchaos allgemein.

Das Fliegen ist zum Abenteuerurlaub mit Hindernisparcours geworden, bei dem jeder Level neue ungeahnte Herausforderungen bietet. Anstehen in Rekordwarteschlangen, in letzter Sekunde annullierte oder umgeleitete Flüge, nicht kommunizierte Umbuchungen, tausende gestrandete Fluggäste.

Hinzu kommen Dominoeffekte in der Reisekette. Wenn in einer Zwischenstation etwas hakt, gerät das komplette System aus dem Gleichgewicht. Der Unterschied: Dies ist kein Spiel.

"Über alle Standorte hinweg fehlen den Dienstleistern, die an der Abfertigung der Passagiere beteiligt sind, rund 20 Prozent Bodenpersonal im Vergleich zur Vor-Corona-Zeit", sagt der Hauptgeschäftsführer des Flughafenverbandes ADV, Ralph Beisel. Die Flughafenbetriebsräte schätzen den zusätzlichen Bedarf auf 5.500 Leute nur in Deutschland.

Fliegen Sie nur mit Handgepäck!

Die allergrößte Problemzone im gegenwärtigen Flugverkehr: Der Gepäcktransport. Der wichtigste Ratschlag für Flugreisende lautet daher im Augenblick: Fliegen Sie nur mit Handgepäck! Die Wahrscheinlichkeit, dass ihr Koffer nicht mit ihnen selbst am Reiseziel ankommt, liegt nämlich bei zehn bis 20 Prozent, im Fall eines Zwischenstopps steigt sie auf über 30 Prozent.

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An allen Flughäfen der Welt stauen sich gerade Zehntausende von herrenlosen Gepäckstücken. Zwar geht relativ wenig davon endgültig verloren, die nachträgliche Zustellung dauert aber nicht selten länger als der Urlaub. Ein aktuellen (belegbares) Beispiel aus der EU: Laut Angaben des Pressesprechers des Flughafens von Lissabon müsste Flugreisende, die ihr Gepäck in Lissabon verloren haben, mit etwa zehn Tagen Wartezeit rechnen.

Flug nur mit Handgepäck mag beim Hipster-Weekend in Barcelona noch wohlige Nachhaltigkeitsillusionen erzeugen, beim drei Wochen langen Familienurlaub hilft das Rezept wenig.

Setzen Sie zwei Runden aus!

Und wenn es denn passiert ist, dann gehen die Probleme meist erst richtig los.

Monatelang haben Gäste der Airline nach Buchung des Fluges und sofortiger Vorkasse des Gesamtbetrages ein zinsloses Darlehen gegeben. Ist der Flug dann annulliert, bekommen sie es mit einer systemischen Hinhaltetaktik der Fluggesellschaften zu tun, die darauf hoffen, dass Fluggäste ihre Rechte nicht kennen oder sie nicht die Nerven haben, sie durchzusetzen.

Und auch wer sich durch den Formulardschungel durchgekämpft und das stundenlange Warten in Service-Hotlines mit Wucher-Gebühren (20 Cent pro Minute bei Festnetzanrufen, bei Mobilanrufen 60 Cent) durchgestanden hat, muss oft weitere Monate auf die Realisierung seiner Ansprüche warten.

Die Rechte der Fluggäste liegen noch längst nicht auf Augenhöhe mit den Rechten der Airlines.

Wann und wie eskaliert die Situation weiter?

Wann und wie eskaliert die Situation weiter? Es ist nur eine Frage der Zeit, wann der permanente Ausnahmezustand in allgemeine Wut und Empörung mündet. Bereits jetzt wird von ersten Schlägereien und Gewalttaten gegen Servicepersonal berichtet.

In einer längeren Perspektive muss man sich eingestehen, dass das gegenwärtige Reisechaos nur ein besonders schrilles Symptom ist. Das Symptom für ein System, das grundsätzlich überfordert und die Krise geraten ist.

War es das mit der Globalisierung? Jedenfalls der Globalisierung, von der seit etwa 30 Jahren, seit Mitte der 1990er die Neoliberalen geträumt und die Linken gewarnt hatten: der Globalisierung der Märkte, der Arbeit, der Rohstoffe? Wenn gleichzeitig Arbeitskräfte und Energie und das Geld knapp sind, kann dieses System nicht funktionieren.

In den Monopoly-Regeln, die auch für Touripoly gelten, steht: "Das Spiel endet auch dann, wenn nur noch ein Spieler übrig ist!" Dort steht allerdings auch: "Die Bank kann niemals pleitegehen!"