Menschenrechtsarbeit in Palästina bedroht

Seite 2: Ächtung sechs palästinensischer NGOs ohne Beweise

Den sechs NGOs wird vorgeworfen, die Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP), die von Israel, der USA und der EU als "terroristisch" eingestuft wird, finanziell unterstützt zu haben. Die Vorwürfe sind jedoch nicht neu und sie haben sich in der Vergangenheit als unbegründet herausgestellt, so der EU-Sprecher Peter Stano.

Die Einstufung der sechs NGOs als "terroristisch" ist "die jüngste in einer eskalierenden Reihe von Verleumdungsangriffen und institutionalisierter Gewalt gegen die Verteidiger der Menschenrechte und Grundfreiheiten des palästinensischen Volkes", so die sechs betroffenen NGOs.

Sie appellieren an die internationale Gemeinschaft und die UN-Mitgliedsstaaten, "Israel aufzufordern, seine systematische und andauernde Politik und Praxis, die darauf abzielt, die palästinensische Zivilgesellschaft und Menschenrechtsverteidiger einzuschüchtern und zum Schweigen zu bringen, zu beenden".

Gleich nach der israelischen Entscheidung starteten die NGOs gemeinsam mit ihren Partnern die Kampagne #StandWithThe6 und richten außerdem am 14. Dezember eine neue Website www.PalCivilSociety.com mit Hintergrundinformationen und einer Petition ein.

Dort heißt es: "Dieser fortgesetzte Angriff auf palästinensische Menschenrechtsverteidiger geht einher mit dem systematischen Einsatz von Cyber-Überwachungstechnologie, um unsere Telefone zu hacken und uns zu überwachen.

Es ist klar, dass es Israels Absicht ist, palästinensische Menschenrechtsverteidiger, die das israelische Apartheid- und Siedlerkolonialregime kritisieren und dazu aufrufen, die israelischen Behörden für ihre Menschenrechtsverletzungen, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Rechenschaft zu ziehen, zum Schweigen zu bringen und zu schikanieren."

Das PLO-Exekutivkomitee hat die Ächtung der NGOs als "speziellen Terrorismus gegen das palästinensische Volk und zivilgesellschaftliche Institutionen" verurteilt sowie die "eklatante Verletzung des Völkerrechts, der Menschenrechte sowie der Menschen- und Bürgerrechte des palästinensischen Volkes".

Abschließend appellierte die PLO an die Internationale Gemeinschaft sowie Menschenrechtsgruppen und humanitäre und internationale Organisationen, diesen Angriff auf das palästinensische Volk und seine Institutionen zu stoppen, um die Zielgesellschaft zu schützen. Auch die Palästinensische Autonomiebehörde wendet sich entschieden gegen die Ächtung.

Solidarität aus Israel

Der Leitartikel der israelischen Zeitung Haaretz am 24. Oktober nannte die Entscheidung "einen Schandfleck für Israel" und kommentierte:

Von nun an gibt es keinen Unterschied mehr zwischen denjenigen, die einen gewaltsamen Kampf gegen den Staat führen und unschuldige Zivilisten verletzen, einerseits und Anwälten in Menschenrechtsorganisationen, die Gefangenen Rechtsbeistand gewähren, oder linken Aktivisten in Organisationen, die sich gegen Folter wenden, Frauen und Kinder und deren Rechte schützen oder Menschenrechtsverletzungen in den [besetzten] Gebieten dokumentieren […] Die eigentliche Botschaft ist klar: Jeder Widerstand gegen die Besatzung ist Terror. Israel untergräbt die Unterscheidung zwischen legitimem und illegitimem Kampf.

Kritik gab es zudem auch von der eher linken Meretz-Fraktion sowie von der Fraktion der Arbeiterpartei, die beide Mitglied der israelischen Regierungskoalition sind.

25 israelische NGOs schreiben in einer gemeinsamen Stellungnahme:

Dokumentation, Anwaltschaft und Rechtshilfe sind grundlegende Aktivitäten zum Schutz der Menschenrechte weltweit. Die Kriminalisierung dieser Arbeit ist ein Akt der Feigheit, der für repressive autoritäre Regime charakteristisch ist. Die Zivilgesellschaft und Menschenrechtsverteidiger müssen geschützt werden. Wir stehen in Solidarität mit unseren palästinensischen Kollegen und fordern die Mitglieder der israelischen Regierung und der internationalen Gemeinschaft auf, sich diesem Beschluss eindeutig zu widersetzen.

Joint Statement: Draconian measure against human rights, 25.10.2021

Weltweite Solidarität

Weltweit gibt es viele Solidaritätserklärungen mit den sechs NGOs. Diese Einstufung als "Terrororganisationen" sei "ein Frontalangriff auf die palästinensische Menschenrechtsbewegung und auf die Menschenrechte überall", erklärten mehrere UN-Menschenrechtsexperten.

"Ihre Stimmen zum Schweigen zu bringen, ist nicht das, was eine Demokratie, die sich an anerkannte Menschenrechte und humanitäre Standards hält, tun würde. Wir rufen die internationale Gemeinschaft auf, die Menschenrechtsverteidiger zu verteidigen."

Auch die UN-Kommissarin für Menschenrechte Michelle Bachelet forderte die unverzügliche Zurücknahme der Entscheidung und wies darauf hin, dass die betroffenen Organisationen zu den renommiertesten Menschenrechts- und humanitären Gruppen in den besetzten palästinensischen Gebieten gehören und seit Jahrzehnten eng mit den Vereinten Nationen zusammen arbeiten.

"Das Einfordern von Rechten vor den Vereinten Nationen oder anderen internationalen Gremien ist kein terroristischer Akt, das Eintreten für die Rechte von Frauen in den besetzten palästinensischen Gebieten ist kein Terrorismus, und die Bereitstellung von Rechtshilfe für inhaftierte Palästinenser ist kein Terrorismus", sagte sie.

"Wie die internationale Gemeinschaft reagiert, wird ein echter Test für ihre Entschlossenheit sein, Menschenrechtsverteidiger_innen zu schützen", so Amnesty International und Human Rights Watch in einer gemeinsamen Stellungnahme.

"Wir sind stolz darauf, mit unseren palästinensischen Partner_innen zusammenzuarbeiten, und das schon seit Jahrzehnten. Sie repräsentieren die wertvolle globale Zivilgesellschaft. Wir stehen ihnen bei der Anfechtung dieser ungeheuerlichen Entscheidung zur Seite."

Weitere Solidaritätserklärungen gibt es von Parlamentariern aus 17 europäischen Ländern, von der Europäischen Vereinigung von Juristinnen & Juristen für Demokratie und Menschenrechte in der Welt (ELDH) und anderen Organisationen.

Reaktionen von EU und Deutschland

Die EU, Deutschland und auch andere europäische Länder unterstützen die palästinensische Zivilgesellschaft und auch die jetzt als "terroristisch" eingestuften Organisationen – meist über Drittorganisationen wie die Rosa-Luxemburg-Stiftung, die Heinrich-Böll-Stiftung, Medico International und Weltfriedensdienst.

Obwohl Israel die EU wegen dieser Finanzierung bereits früher zu Unrecht der "Terrorfinanzierung" beschuldigt hat und auch jetzt keinen überzeugenden Nachweis für diese Beschuldigungen geliefert hat, wie Irlands Außenminister Simon Coveney am 2. November während seines Besuchs in Israel erklärte sowie der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell am 17. November, hat weder die EU noch Deutschland diese ungeheuerliche Entscheidung der israelischen Regierung bislang verurteilt.

Nach der Entscheidung des Militärbefehlshabers im Westjordanland vom 7. November, die sechs Organisationen zu verbieten, erklärte Lynn Hastings, die UN-Koordinatorin für humanitäre Hilfe in den besetzten palästinensischen Gebieten, dass bislang weder eine der UN-Organisationen noch Aida (Association of International Development Agencies) schriftliche Unterlagen erhalten habe, die diese Vorwürfe belegen.

In der gemeinsamen Erklärung von UN-Organisationen und Aida, heißt es, dass die jetzt verbotenen sechs Organisationen seit Jahrzehnten mit der internationalen Gemeinschaft einschließlich der UN zusammenarbeiten. Frühere Anschuldigungen des Missbrauchs von Geldern hätten sich nicht bestätigt.

Und sie weisen darauf hin, dass die Gesetzgebung zur Terrorismusbekämpfung im Einklang stehen muss mit den Verpflichtungen des humanitären Völkerrechts und der internationalen Menschenrechtsnormen.

Verbot der sechs NGOs – warum gerade jetzt?

Die Frage stellt sich, warum die israelische Regierung sich gerade jetzt zu dieser Kriegserklärung gegen die palästinensische Menschenrechtsarbeit entschlossen hat. Folgende Überlegungen liegen nahe:

Es ist sicher kein Zufall, dass diese Entscheidung zu einem Zeitpunkt erfolgte, zu dem der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) Anfang des Jahres eine formelle Untersuchung wegen Kriegsverbrechen eingeleitet hat trotz israelischer und US-amerikanischer Bemühungen, diese zu vereiteln. Insbesondere muss Benny Gantz damit rechnen, höchstpersönlich als früherer Generalstabschef der Armee beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag angeklagt zu werden.

"Wir werden seit Jahren angegriffen, und zwar aus einem Grund", sagt Saher Francis, die Leiterin von Addameer. "Es gelingt uns, einen Paradigmenwechsel weltweit herbeizuführen, indem wir von Apartheid und nicht nur von Besatzung sprechen, und wir liefern Material nach Den Haag".

"Das jahrzehntelange Versagen der internationalen Gemeinschaft, schwerwiegende israelische Menschenrechtsverletzungen anzufechten und sinnvolle Konsequenzen daraus zu ziehen, hat die israelischen Behörden zu diesem dreisten Vorgehen ermutigt", so Amnesty International und Human Rights Watch.

Hinzu kommt, dass sowohl die USA wie auch die EU nicht möchten, dass die jetzige israelische Regierung zusammenbricht und das verleitet sie zu Nachgiebigkeit. Vornehmlich sind USA und EU die militärische Zusammenarbeit mit Israel bedeutungsvoll. Außerdem sind sie sehr mit anderen Themen beschäftigt: Corona, Klimakrise und China.

Der Pegasus-Skandal: Im Sommer war bekannt geworden, dass mithilfe der Spionage-Software Pegasus der israelischen Firma NSO Group weltweit Journalisten, Politiker:innen und Aktivist:innen ausgespäht werden.

Die USA haben NSO Group auf die schwarze Liste gesetzt. Denn diese erlaube es autoritären Regierungen, Regierungskritiker und Journalisten zu überwachen. Die Software kann unbemerkt auf Daten eines Telefons zugreifen und Kamera und Mikrofon anschalten. Am 16. Oktober wurde bekannt, dass palästinensische Menschenrechtsverteidiger:innen der sechs später geächteten NGOs mit Pegasus ausgespäht wurden.

Andere Reaktion im Fall der russischen NGO Memorial

Anlässlich des Internationalen Tags der Menschenrechte am 10. Dezember hat Pax Christi International zwei besonders besorgniserregende Fälle hervorgehoben, in denen der zivile Raum für Menschenrechts- und zivilgesellschaftliche Organisationen stark eingeschränkt wird: International Memorial, eine angesehene Menschenrechtsorganisation in Russland, die von Auflösung bedroht ist sowie die sechs palästinensischen NGO.

Die Reaktion der deutschen Politik könnte jedoch unterschiedlicher kaum sein. "Fassungslos" müsse man sein wegen der drohenden Schließung von Memorial so Bundespräsident Walter Steinmeier. Der damalige Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) forderte, die politisch motivierte Verfolgung der kritischen Zivilgesellschaft in Russland müsse aufhören. "Die Organisation darf nicht zum nächsten Opfer willkürlicher Kriminalisierung werden.

Mit diesem Schritt würde sich Russland weiter aus dem europäischen Wertekanon entfernen", sagte die jetzige Außenministerin Annalena Baerbock im November. "Wir wenden uns entschieden gegen das politisch motivierte Vorgehen gegen Memorial und die Kriminalisierung des zivilgesellschaftlichen Engagements."

Ganz anders dagegen die Reaktionen im Falle der palästinensischen NGOs. Obwohl die EU über diesen Schritt vorher informiert wurde, haben die EU und Deutschland in keiner Weise dagegen protestiert und das, obwohl früher Vorwürfe gegen dieses NGOs haltlos waren.

Auch als sie feststellen mussten, dass der Staat Israel diesmal wieder keine Beweise lieferte – trotz riesigem Geheimdienstdossier mit Unterlagen, die aufgrund von intensiver Überwachung, viele willkürlichen Razzien und Verhaftungen von Menschenrechtsverteidigern zusammengestellt worden war, war die Reaktion der EU eher verhalten.

Verurteilung von EU und Deutschland dringend erforderlich

Umso wichtiger ist, dass die neue Bundesregierung, die laut Koalitionsvertrag ihre Außenpolitik werteorientiert ausrichten will, die Ächtung der NGOs entschieden verurteilt und seine Aufhebung fordert. Für Shawan Jabarin, Leiter von Al-Haq, ist dies der "Moment der Wahrheit", in dem sich zeigt, ob die EU ihre erklärte Unterstützung für die palästinensische Zivilgesellschaft in wirksame Maßnahmen umsetzen wird.

Wenn nicht erheblicher internationaler Druck auf Israel ausgeübt wird, "wird es in zwei Monaten keine palästinensische Zivilgesellschaft mehr geben" so Ubai Al-Aboudi, Direktor des Bisan-Zentrums für Forschung und Entwicklung, eine der betroffenen Gruppen.

Gabi Bieberstein ist aktives Mitglied im globalisierungskritischen netzwerk Attac, beim Internationalen Versöhnungsbund, beim Deutschen Koordinationskreis Palästina Israel (KoPI) und bei der LINKEN. Ihr Schwerpunkt liegt im Bereich Frieden und Internationale Politik.