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Von Orgasmen, Hochzeitsglocken und der Notwendigkeit des Wohlwollens

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Die Vereinigten Staaten sind die dominierende globale Supermacht. Wen sollte es also verwundern, dass sich die nach Amerika ausgewanderten Europäer mittlerweile in der natürlichen imperialen Erbfolge des Römischen Reiches sehen. Das 20. Jahrhundert war ein amerikanisches Jahrhundert, wird aktuell von den Chronisten notiert. Aber das konnte man auch schon vor etwa 10 Jahren über Japan auf der Spitze seines Wirtschaftsbooms lesen. Hochmut kommt bekanntlich immer vor dem Fall. Und gefallen sind die amerikanischen Technologieaktien mittlerweile ziemlich tief.

"Looking Backward"

In seinem 1888 erschienenen Bestseller "Looking Backward" ließ der amerikanische Schriftsteller Edward Bellamy einen jungen Amerikaner im Jahr 2000 aufwachen. Dort findet der Zeitreisende ein Amerika ohne Armut, ein Land mit vergesellschafteten Produktionsmitteln und glücklichen Menschen. Bellamy's Vision von einem solidarischen Amerika ist jedoch von dem, was sein junger Langschläfer heute erlebt, meilenweit entfernt.

Heute würde sich diesem ein Amerika zeigen, in dem privates Eigentum Trumpf ist und in dem der allmächtige Markt über den Bürgern thront. Diesen Zustand beschreibt am besten die Verfilmung der Erzählung "Fear and Loathing in Las Vegas" von Hunter S. Thompson aus dem Jahr 1971. Hier wird eine Art Drogentrip zur Erfüllung des "American Dream" als Verheißung von Freiheit und Gerechtigkeit. Doch was gefunden wird, ist Wahnsinn, Einsamkeit und Gier. Letztendlich ist der amerikanische Traum gestorben und nur das Spielerparadies Las Vegas übrig geblieben. Mit seiner Diagnose vom Tod des amerikanischen Traums trifft Thompson auch heute noch den Nerv der Zeit. Es kann also nicht überraschen, wenn am Schluss der heutigen Spielcasino-Ökonomien 0,1 Prozent der Investoren 99,9 % des Volkseinkommens kontrollieren werden

Aufmerksamkeits-Prostitution auf dem Netz

Mehr als 95 % aller Webseiten sind heute nach dem gleichen Prinzip aufgebaut. Deshalb bringen die meisten "Sites" den Kunden keinen eigentlichen Mehrwert. Sie dienen der reinen Selbstdarstellung. Jeder, von Firmen über Privatpersonen, hat sich, der Logik des Netzes folgend, in diesem entkleidet. Man könnte die durch die Webauftritte ausgelöste Surfwelle auch als Prostitutionswelle um Aufmerksamkeit bezeichnen.

Dann folgte der ausufernde Aufbau von Portalen und Marktplätzen. In dieser Welle wurde versucht, so viele Menschen wie möglich auf dem jeweiligen Portal miteinander zu vernetzen. Jedermann soll hierbei auf so viele Informationen wie möglich zugreifen können und diese in nahezu Echtzeit zu neuen Informationen weiterverarbeiten. Fast ging es in dieser Welle wie beim Gruppensex der Flower Power-Generation zu, bei dem bekanntlich der Austausch von Körperflüssigkeiten seinem fulminanten Höhepunkt zustrebte.

Während Einzelpersonen sich mit schlichten Homepages begnügten, formten die Unternehmen sogenannte Communities und Portale, im Rahmen derer Unmengen von Webseiten den User in einem unendlich erscheinenden Datenfriedhof gefangen halten. Die viralartige Überschwemmung des WorldWideWeb mit Content führte zur Notwendigkeit effizienter Suchmaschinen, die in der Perfektionierung genetischer Algorithmen durch Google endet. Suchmaschinenanbieter wie Yahoo oder der Internetbuchladen Amazon.com erreichten durch den Boom in diesem Attraktor Börsenbewertungen, angesichts derer der Sears Tower in Chicago wie ein einstöckiger Bungalow wirkte.

Kommerzialisierung des Netzes

Der Zeitaufwand für die Wartung der Homepages waren schon bei der Prostitutionswelle sehr intensiv, doch bei der Gruppensexwelle wurde er nochmals exponenziell gesteigert. Doch obwohl alles hemmungslos sich in Form von Links miteinander vereinte, stiegen die Einnahmen nicht in dem erhofften Umfang. Die Burn Rates an Kapital katapultierten die Börsenbewertungen auf ein Niveau, angesichts derer die Steigraten von modernen Raketen ähnlich langsam erscheinen müssen wie die eines Höhenbergsteigers am Mount Everest.

Während der Alpinist auf höchstem Niveau mit Sauerstoffknappheit zu kämpfen hat, zeigt sich beim Entrepreneur der Generation Y eine Geldknappheit in Form des monetären Burn-Out. Die Kommerzialisierung des Netzes wurde für diesen zum Synonym für das Privileg, "Verluste zu machen". Der Direktverkauf über agentengesteuerte Matching-Systeme sollte als ultimative Wunderwaffe den Traffic nach oben treiben und Werbeeinnahmen in bisher ungeahnter Höhe produzieren.

Vorreiter für den E-Commerce, wie sollte es anders sein, waren die Partnervermittlungs- und Sex-Homepages. Die Gründergeneration glaubte fest daran, dass über den elektronischen Handel die intimsten Wünsche befriedigt werden können. Jetzt kann man erkennen, warum eine Analogie zum Sexualverhalten in der guten alten Old Economy von Nutzen ist. Ich nenne die dritte Welle deshalb die Orgasmuswelle. Unternehmen, die falsche Zahlen vorgaukelten, müssen den Hardcore-Produzenten des E-Business zugerechnet werden. Je steiler der Kurs-Phallus mit frisches Kapital durchblutet wurde, desto mehr Lust bekamen die Anleger in diesem Pornostreifen durch Aktienkauf als Laiendarsteller selbst mitzuwirken. Mittlerweile wurde deutlich, warum man im Falle des plötzlichen Abschwellens eines Börsen-Phallus von einem Blutbad unter den Anlegern spricht.

Hochzeitsglocken

Von den Wünschen des schnellen Reichtums der Anleger bis zum globalen Zulieferportal der Automobilindustrie hatte das "Lustprinzip" schnell alle Lebensbereiche der sogenannten "New Economy" erfasst. Doch nach dem Orgasmus kommt bekanntlich der Rückgang der Erregung und so war es nicht weiter verwunderlich, dass im April 2000 die Aktienkurse weltweit auf breiter Front einbrachen.

Internet- und Biotech-Aktien stürzten bis Februar 2000 um mittlerweile bis zu 90 - 95 % von ihren zuvor erreichten Höchstkursen hinab. Da jetzt viele Unternehmen scheinbar tief bewertet sind, kristallisiert sich ein Vermählungswunsch heraus. Die Internet-Hochzeitswelle, die mit der Verheiratung von Unternehmen zu neuen Giganten wie AOL/Time Warner begann, ist mittlerweile im vollen Gange. Die Konsolidierung durch Vermählung ist, wie im "Non-WWW-Life", die scheinbare unvermeidbare Begleiterscheinung der nachlassenden Erregung. Allerdings kaufen jetzt nicht mehr neue Firmen alte auf, sondern die alten die jungen. Im Sex-Business zählt eben vor allem die Erfahrung!

In der Prostitutionswelle wurde alles nur erdenkliche veröffentlicht, in der Gruppensexwelle wurde alles mit allem verlinkt und in der Hochzeitswelle wird nun versucht, durch Übernahmen zu retten, was noch zu retten ist. Der nicht verheiratbare Rest muss leider im Rahmen von Millisekundenpleiten à la Gigabell und Etoys den ultimativen Gang zum Konkursrichter antreten. Es bleibt noch zu berichten, dass mittlerweile viele spekulationssüchtige Anleger eine Entziehungskurs durch Fernbleiben von den Märkten angetreten haben.

Auf dem Weg zur Wohlwollenswelle

Könnte es sein, dass wir in der New Economy etwas falsch gemacht haben bzw. etwas Wesentliches übersehen haben? Der eigentliche Prozess des E-Business könnte auch im Aufbau von Win-Win-Situationen und nicht im bisher gesehenen Neodarwinismus fusionärer Managementstrategien liegen. Wäre es denkbar, dass es im Rahmen von neuartigen Business-Ökosystemen um nichts Geringeres gehen könnte, als um das Wohlwollen gegenüber dem anderen Teilnehmer? Dies ist jedoch nichts geringeres als die Menschwerdung im Netz aller Netze, wie der Philosoph Vilem Flusser sie sich vorstellte.

Wenn es gelingt, aus den bisherigen Partnerschaften kooperative Dot.Com-Projekte hervorzubringen, die weltweit zu einer Demokratisierung des Wissens und einer gerechteren Verteilung des Wohlstandes führen, dann hätte sich der Ausflug in den virtuellen "Super-Hype" gelohnt, weil wir von einem "New 'New Deal'" alle profitieren würden. Gelingt dies nicht, hat das Medium Internet auf dem Weg zur Menschwerdung versagt. Da es heute um nichts Geringeres geht, als um eine Gesellschaft der Offenheit und Toleranz, in der es keine Ländergrenzen mehr gibt, bleibt die Hoffnung auf eine Welle der Solidarität und Hilfsbereitschaft: Ich nenne diese mögliche Krümmung der Surf-Trajektorie "Wohlwollenswelle".