Merkel und Seehofer unter Druck

Vor dem Beginn der Jamaika-Sondierungsgespräche am Mittwoch sehen sich beide Parteichefs mit Rücktrittsforderungen konfrontiert

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die Jamaika-Koalition, so hieß es gestern in Sozialen Medien, sei das erste Regierungsbündnis, das vom Wähler abgestraft wurde, bevor es sich gebildet hat. Tatsächlich verloren bei der Niedersachsenwahl am Sonntag alle drei Fraktionen, die bei dieser von Angela Merkel angestrebten Koalition mitmachen sollen: Der Stimmenanteil der CDU ging um 2,4 Punkte auf 33,6 Prozent zurück, der der Grünen sank um satte fünf Punkte auf jetzt 8,7 Prozent - und sogar die FDP, die bei der Bundestagswahl am 24. September noch der zweitgrößte Gewinner war, verlor 2,4 Punkte auf jetzt siebeneinhalb Prozent. Insgesamt addieren sich diese Verluste auf ein Minus von 9,8 Prozent für "Jamaika".

Der Verlust der CDU ist auch insofern bemerkenswert, als die Partei im August, als noch nicht von einer Jamaika-Koalition die Rede war, in Niedersachsen mit 40 zu 28 Prozent zweistellig vor der nun stärkeren SPD führte. Die WerteUnion, ein Zusammenschluss konservativer Initiativen in der CDU, erklärte deshalb nach der Niedersachsenwahl, sie lehne eine Jamaika-Koalition ab. Darüber hinaus fordert sie den Rückzug von Bundeskanzlerin Angela Merkel, die ihrer Ansicht nach "alleine […] die Verantwortung für diese Niederlage" trägt, weil sie nach der verlorenen Bundestagswahl lapidar erklärte, sie wisse nicht, was sie anders machen solle. Merkel selbst sieht das anders und meint, "landespolitische Entscheidungen" seien "sehr im Vordergrund" gestanden.

"Mogelpackung"

Der WerteUnion-Vorsitzende Alexander Mitsch glaubt dagegen, dass die niedersächsischen Wähler "ganz offensichtlich das unreflektierte 'Weiter so' der Bundeskanzlerin nach der desaströsen Bundestagswahl und das beabsichtigte Festhalten an der Politik der offenen Grenzen unter fortlaufender Missachtung des Artikels 16a des Grundgesetzes [abstraften]." Der Absatz 2 dieses Artikels 16a regelt, dass nur denjenigen Asylbewerbern ein Verfahren gewährt werden muss, die nicht über einen sicheren Drittstaat einreisten. Im letzten Jahr waren das weniger als tausend. Der "Obergrenzenkompromiss", auf den sich Angela Merkel mit dem CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer einigte, ist für Mitsch wegen fehlender Regeln zur Abweisung solcher aus Drittstaaten einreisenden Asylbewerber an den Grenzen eine "Mogelpackung".

Über zwei Drittel der Bayern für Abschied Seehofers

Diesen Vorwurf muss sich auch Horst Seehofer anhören, dessen CSU bei der Bundestagswahl so schlecht abschnitt wie seit 1949 nicht mehr (vgl. Die CSU nach dem schlechtesten Bundestagswahlergebnis seit 1949). Neben Peter Gauweiler (der dazu ein Rilke-Zitat nutzte) forderten ihn in den vergangenen Tagen und Wochen auch zahlreiche andere CSU-Politiker aus dem Landtag, der Oberpfalz, Mittelfranken, Oberfranken und München mehr oder weniger direkt zum Rücktritt auf.

Munition erhielten diese Kritiker durch eine von der Augsburger Allgemeinen in Auftrag gegebenen repräsentativen Civey-Umfrage, in der 71,7 Prozent der Befragten angaben, dass Seehofer bei der Landtagswahl im nächsten Jahr nicht mehr antreten soll. 47,1 Prozent meinen sogar, er solle das "auf keinen Fall" machen. Mit ihm zufrieden sind lediglich 28,3 Prozent.

Abwärtsdynamik

Dieser Umfrage nach würde die CSU bei einer Landtagswahl mit 40,7 Prozent Stimmenanteil zwar um 1,9 Punkte besser abschneiden als bei der Bundestagswahl, aber trotzdem sieben Punkte und ihre absolute Mehrheit einbüßen. Dieses Szenario könnte beim Wähler eine Dynamik in Gang setzen, die zu weiteren Stimmverlusten führt: Sieht es nach einer Landeskoalition der CSU mit der 14,1 Prozent schwachen SPD oder den bei 12,4 Prozent gemessenen Grünen aus, werden sich potenziell noch mehr konservative CSU-Wähler von der Partei abwenden.

In Bayern haben sie als Alternativen nicht nur die in der Umfrage 11,3 Prozent starke AfD, sondern auch die sieben Prozent starken Freien Wähler und die Bayernpartei zur Verfügung, die von 1954 bis 1957 im Land mitregierte und aktuell wieder zweitstärkste Oppositionspartei im Münchner Stadtrat ist (vgl. Umfrage: Fast ein Drittel der Bayern für Austritt aus der Bundesrepublik). Signalisiert die CSU eine Landeskoalition mit der AfD, bleiben ihr andere Gruppen fern. Ein möglicher Ausweg wäre eine Koalition mit der bei 7,1 Prozent gemessenen FDP - wenn diese wegen einer Jamaika-Koalition nicht ebenfalls deutlich an Stimmen verliert.

Warten auf den Winter

Gestern verlaute Seehofer Medienberichten nach in einer Sitzung des CSU-Vorstands auf Fragen zu seiner Zukunft, man müsse jetzt "Personalien acht Wochen lang zurückzustellen" und die am Mittwoch beginnenden Jamaika-Sondierungsgespräche sowie eventuelle anschließende Koalitionsverhandlungen abzuwarten. Zu diesen Gesprächen nimmt der bayerische Ministerpräsident seinen als Nachfolger gehandelten Rivalen Markus Söder nicht mit - anders als Angela Merkel, die ihren indirekten Herausforderer Jens Spahn eingebunden hat. Söder ist das womöglich gar nicht unrecht: Auf diese Weise wird er nicht mit Jamaika in Verbindung gebracht.