Merkel und die Flüchtlinge: Gegen Dublin III, aber richtig "im Geist der Solidarität"?

Migranten in Deutschland, Oktober 2015. Foto: © Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0

Reaktionen auf das EuGH-Urteil zur Durchwink-Politik der Migranten und Flüchtlinge im Herbst 2015

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Die sogenannte "Durchwink-Politik", die im Herbst 2015 bis zur Schließung der Balkan-Route mit Migranten und Flüchtlingen praktiziert wurde, ist nicht gleichzusetzen mit der Erteilung von Visa. Die Dublin-III-Verordnung blieb geltender rechtlicher Maßstab. Die Einreise in Länder außerhalb des für die Aufnahme zuständigen Landes, wo die Flüchtlingen und Migranten zum ersten Mal EU-Boden betreten, war "illegal".

Es sei "nicht ausschlaggebend, dass das Überschreiten der Grenze in einer Situation erfolgt, die durch die Ankunft einer außergewöhnlich hohen Zahl internationalen Schutz begehrender Drittstaatsangehöriger gekennzeichnet ist".

Dies ist knapp gefasst der Kern des Urteils des EuGH, das gestern veröffentlicht wurde (Kurzfassung Pressemitteilung hier, Langfassung hier.

Es gab zum Punkt 92, wo festgestellt wird, dass auch bei einem geduldeten Überschreiten der Grenzen, dies laut Dublin-III "illegal bleibt, noch einen weiteren Punkt, der in den Diskussionen aufgenommen wurde: der Punkt 100. Dort stellt das Gericht fest:

Viertens kann, unabhängig vom Erlass solcher Maßnahmen, die Aufnahme einer außergewöhnlich hohen Zahl internationalen Schutz begehrender Drittstaatsangehöriger durch einen Mitgliedstaat auch dadurch erleichtert werden, dass andere Mitgliedstaaten, einseitig oder in Abstimmung mit dem betreffenden Mitgliedstaat, im Geist der Solidarität (Herv. d.A.), der im Einklang mit Art. 80 AEUV der Dublin-III-Verordnung zugrunde liegt, von der in Art. 17 Abs. 1 dieser Verordnung vorgesehenen Befugnis Gebrauch machen, zu beschließen, bei ihnen gestellte Anträge auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn sie nach den in der Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig sind.

EuGH-Urteil, vom 26.7.2017

Die Reaktionen auf das Urteil gestern und heute rankten sich an genau diesen beiden Polen. Der eine heißt: Bundeskanzlerin Merkel handelte mit dem seinerzeitigen Erlass, die Migranten und Flüchtlinge nach Deutschland durchreisen zu lassen, illegal - gegen die Dublin-III-Verordnung. Der andere Pol sieht in der oben herausgehobenen Formulierung "im Geist der Solidarität" eine Legitimierung der Merkelschen Politik der geduldeten Durchreisen durch den EuGH, der mit der "Eintrittsklausel" im EU-Flüchtlingsrecht argumentiert.

AfD-Anhänger orientierten sich an Punkt eins, wie man bei Twitter sehr leicht und schnell nachlesen kann. Aber sie waren freilich nicht die einzigen. So war zum Beispiel auch für den stellvertretenden EU-Parlamentspräsidenten Alexander Graf Lambsdorff von der FDP die Sache eindeutig: Die Bundesregierung habe erst die überfällige Reform des Dublin-Systems "verschleppt und sich dann in der Flüchtlingskrise des Rechtsbruchs schuldig gemacht". Höchstrichterlich sei nun bestätigt:

Kanzlerin Merkel hat 2015 die europäische Flüchtlingspolitik ruiniert, unsere Nachbarn brüskiert und Deutschland isoliert.

Alexander Graf Lambsdorff, FDP

SPD- Kanzlerkandidat Schulz steuerte dagegen erwartungsgemäß auf den solidarischen Pol zu. Das Urteil mache deutlich, dass eine "politische Verständigung auf eine europäische Flüchtlingspolitik" nötig sei, wird er von heute zitiert: "Wir brauchen einen Solidarpakt für Europa." Es könne nicht sein, "dass die Staaten, die an der Außengrenze der EU liegen, allein gelassen werden".

Man kann aus dem Urteil Begründungen für jede Seite herauslesen; es ist unbefriedigend, so die Tendenz, die aus Berichten großer Medien hervorgeht:

Das Urteil zeigt einmal mehr, dass europäische Regeln zur Flüchtlingspolitik derzeit von begrenztem Nutzen sind. Eine Entscheidung lässt sich damit genauso rechtfertigen wie ihr Gegenteil. Letztlich lassen sich diese Probleme sowieso nicht juristisch lösen. Regierungen, die die Regeln nicht akzeptieren, werden sie nicht befolgen.

FAZ

Auch beim Spiegel sieht man, dass ein politisches Problem bleibt:

Damit bleibt ein großes Problem für die Staaten mit EU-Außengrenzen: Sie sind allein für die Asylanträge derer verantwortlich, die auf ihrem Gebiet in die EU kommen - während Deutschland, Österreich oder Frankreich selbst entscheiden können, ob und wie sehr sie helfen. Derzeit betrifft das vor allem Italien.

Spiegel

Heribert Prantl von der SZ empört das Urteil. Für ihn ist es Ausdruck eines Eskapismus der Richter. "Ein Urteil, das jedem irgendwie recht gibt, kann nicht Recht sein." Das Urteil fliehe vor der Wirklichkeit und werde den realen Anforderungen der Flüchtlingspolitik nicht gerecht.

Das auf den Dublin-Zuständigkeitsregeln aufbauende europäische Asylrecht ist ein System der Unverantwortlichkeit. Die Europarichter haben es versäumt, diesem System ein Ende zu setzen. Sie haben es versäumt, dieses System wenigstens deutlich zu kritisieren und neue, praktikablere und gerechtere Regeln vorzuschlagen. Sie haben es versäumt, Perspektiven für eine neue Flüchtlingspolitik aufzuzeigen. Heribert Prantl, SZ

Nun sind von Gerichten keine politische Lösungsvorschläge für problematische Lagen zu erwarten. Ob Dublin III reformiert wird, wie es nicht nur die Grünen fordern, wie man mit der Situation in Italien umgeht - alles läuft auf den Geist hinaus, den das Gericht als Gegenstück zu den gültigen Bestimmungen herausgestellt hat, den Geist der Solidarität unter den EU-Staaten.

Dass er auch damals auch in Wirklichkeit nur partiell vorhanden war, zeigt die Klage Ungarns und der Slowakei gegen die Umverteilung der Flüchtlinge. Deren Weigerung ist vielleicht nach den gesetzlichen Rahmenbedingungen wohl gerichtlich einzufordern, falls sich der EuGH so entscheiden wird, praktisch aber nur mit politischen Mitteln. Auch eine Veränderung von Dublin III braucht diese Solidarität. Derzeit sieht es damit nicht gut aus. Richterlich kann man sie nicht erzwingen.