Mexiko: Die Drogenmafia hat den Staat besiegt

Seite 2: Sicherheitslage und Korruption

Dass der Staat zunehmend die Kontrolle über sein eigenes Gebiet verliert, und kriminelle Gruppen, mit denen der Staat paktiert, mächtiger als selbiger werden, wird immer offensichtlicher. Das Militär hatte am 17. Oktober 2019 einen klaren Auftrag: Ovidio Guzmán Salazar schnappen, eines der insgesamt 18 Kinder des Drogenbosses Joaquín Guzmán Loera, alias "El Chapo". Die Stadt Culiacán verwandelte sich binnen Stunden in eine Kriegszone. Ein- und Ausgänge in die Stadt wurden von Kriminellen des Sinaloa-Kartells blockiert.

Alles wurde abgeriegelt. Militärisch waren sie den Streitkräften überlegen, nach kurzer Zeit bekamen diese dann Befehl von oben, sich zurückzuziehen – und den erfolgreich festgenommenen Sohn von El Chapo wieder freizulassen. Eine derart heftige Kapitulation des Rechtsstaats hat man in Mexiko zuvor selten gesehen.

Nicht mal ein halbes Jahr später schüttelte Präsident López Obrador bei einem Besuch in El Chapos Herkunftsort Badiraguato freundlich grinsend die Hand von dessen Mutter. Dieses Jahr, am 16. Mai 2022, überschritt Mexiko nach offiziellen Zahlen die Grenze von 100.000 Verschwundenen. Seit Beginn des Drogenkriegs ist ein Anstieg um 4.086 Prozent an Fällen von gewaltsamen Verschwindenlassens zu verzeichnen. Mord ist mittlerweile die Todesursache Nummer eins unter Männern zwischen 15 und 34 Jahren.

Die Doktrin "Abrazos, no balazos" – "Umarmungen, keine Kugeln – ging nach hinten los. Der Krieg im Land weitet sich aus. Zur gleichen Zeit expandieren mächtige Gruppen wie das Sinaloa-Kartell oder das Jalisco-Kartell Neue Generation. In Europa waschen sie Geld in Albanien und knüpfen Kontakte in Spanien und Italien.

Die Toten und das Leid werden bleiben jedoch zu Hause in Mexiko: Ein Bericht der UN zählt über 52.000 nicht identifizierte Leichen, bemerkt eine forensische Krise. Unter den derzeitigen Bedingungen würde es 120 Jahre dauern, um alleine die bisher aufgefundenen namenlosen Leichen zu identifizieren – ohne die täglich neu hinzukommenden zu zählen.

Seit Amtsbeginn sagte der Präsident in seinen Reden 857 Mal, dass es keine Korruption mehr gebe. Die Verstrickung von Organisierter Kriminalität und staatlichen Institutionen sowie das Unterschlagen öffentlicher Gelder von Funktionären läuft jedoch munter weiter.

Nicht zuletzt das massive Datenleak von Servern des Verteidigungsministeriums Sedena offenbarte die Verbindungen einiger Lokalpolitiker mit Kriminellen, sowie die Passivität der Streitkräfte beim Verfolgen der Delinquenten. Der "Corruption Perception Index" der Organisation Transparency International stuft die Entwicklung in Mexiko leicht positiv ein: 2018 war das Land noch auf Platz 138 (von 180), zeigt der letzte Bericht Mexiko auf Platz 124.

Als vergangenen August erneut eine Gewaltwelle über verschiedene Staaten Mexikos rollte, hob ein Kommentar der Bürgermeisterin Tijuanas das Niveau an Verzweiflung besonders hervor: Sie bat die Anhänger des Organisierten Verbrechens, "die Rechnungen von denjenigen einzufordern, die ihre Schulden nicht bezahlt haben, nicht von den Familien, nicht von den arbeitenden Bürgern".

Militarisierung

Alles beim Alten: Wer auf den Straßen und Autobahnen Mexikos heute unterwegs ist, und das zehn Jahre zuvor schon tat, wird keinen Unterschied feststellen. Das ist, würde man den amtierenden Präsidenten beim Wort nehmen, eine Überraschung. Denn ein fixes Versprechen war, dass die Streitkräfte wieder zurück in die Kasernen kehren. Stattdessen sieht es derzeit so aus, dass die Militärs bis 2028 auf den Straßen bleiben.

Das Militär ist involviert beim Bau öffentlicher Infrastruktur, beim Impfen, auf den Autobahnen, auf den Straßen. Präsident AMLO schuf die Guardia Nacional (Nationalgarde), die aus vielen Elementen besteht, die zuvor bei der Polizei waren. Ein aktiver Militär aus Mexiko-Stadt sagte dem Autor dieses Artikels: "Aus meiner Sicht sollte das Militär nicht auf den Straßen patrouillieren, denn das ist Aufgabe der Polizeikräfte." Dass sie weniger korrupt seien als Polizisten, wie der Präsident argumentiert, stimme.

Mehr Militär half bisher jedoch nicht bei der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität. Die Menschen fühlen sich auch nicht sicherer. Ein kompletter Austausch der Truppen sowie umfassende Schulungen in Anti-Korruptionsmaßnahmen wären vonnöten, damit eine militärische Strategie effizient funktionieren könnte. Um die professionellen kriminellen Gruppen ganz auszuschalten, müsste jedoch eine Regierung an die Macht, die nicht mit ihnen paktiert – was in der jüngeren Geschichte Mexikos im Prinzip nie der Fall war.

Die Regierung Felipe Calderóns etwa, dem Architekten des Drogenkriegs, hielt regelmäßig Treffen mit den großen Drogenbossen ab. Das kam unter anderem deshalb ans Licht, da einer dieser Capos – Edgar Valdez Villareal alias "La Barbie" – jahrelang auch Agent für die DEA war.

Dauerkrise, Gewaltspirale: Was tun?

Die Strategie der Armutsbekämpfung werde die Drogenkartelle nicht schwächen, betont Investigativjournalistin und Expertin Anabel Hernández. Das "niederländische Beispiel" zeige uns, dass das nicht stimme: Obwohl das Land wirtschaftlich hervorragend dastehe, habe es sich zu einem der größten Produktionsstandorte für Methamphetamin entwickelt. Armut generiere nicht automatisch Kriminalität. "Sie tun das, weil sie es können, nicht, weil Menschen hungern, nicht, weil es soziale Ungerechtigkeit gibt", so Hernández im Interview mit Aristegui Noticias.

Ein starker Rechtsstaat bildet die Basis für eine effiziente Verbrechensbekämpfung. Das erklärt auch, weshalb sich Mexiko so schwertut: Korrupte Staatsanwaltschaften, Polizeikräfte und Politiker verhindern einen wahren Zugang zu Gerechtigkeit.

Investigativjournalistin Anabel Hernández empfiehlt das italienische Modell: Einfrieren von Konten, Vermögenswerten, Gebäuden, in denen die Mafia operiert. Die geschäftlichen Strukturen müsse man zerbrechen, die Geldwäsche unterbinden. In Italien hat man damit jahrzehntelange Erfahrung. Doch mit mehr politischem Wille wäre das auch in Mexiko denkbar – und Erfolge wären greifbar. Dieser Wille muss allerdings von ganz oben kommen.

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