Mexiko: Die Drogenmafia hat den Staat besiegt

Amtierender Präsident schafft es nicht, die Dauerkrise in den Griff zu bekommen. Mexiko versinkt zunehmend im Chaos. Ein Ansatz zur effizienten Mafia-Bekämpfung könnte in Europa liegen.

Lateinamerika lodert: Die Dauerkrise in der Region manifestiert sich zunehmend durch die Verhängung von Notstandsregimes. Nachdem El Salvador im März dieses Jahres den Ausnahmezustand verkündigte – der seitdem besteht – haben nun auch Peru, Honduras und Jamaika nachgezogen. Die Probleme, die die Region plagen, sind stets dieselben: Ungleichheit, Korruption, Gewalt, soziale Unzufriedenheit.

In Mexiko herrscht hingegen seit über 16 Jahren der Ausnahmezustand – inoffiziell. Denn seit 2006 den Drogen der Krieg erklärt wurde, versinkt das Land zunehmend in einer Gewaltspirale. Der Kontrollverlust, die Unfähigkeit des Staates, für Ordnung zu sorgen, wird immer evidenter. Offiziell ist Mexiko weder im Krieg noch im Ausnahmezustand.

25 Verschwundene täglich

Um Recht und Gesetz durchzusetzen und für Frieden zu sorgen, wird seit Jahren auf die Streitkräfte gesetzt. Das offenbart bereits einen architektonischen Fehler im Sicherheitskonzept – sind Militär, Marine und Polizei doch stellenweise selbst auf der Gehaltsliste der kriminellen Gruppen. 2006 schickte der damalige Präsident Felipe Calderón Truppen in den kriselnden Bundesstaat Michoacán. Danach weitete sich der Konflikt auf das ganze Land aus.

AMLO. Bild: Presidencia de la República Mexicana / CC-BY-2.0

Der amtierende Präsident Andrés Manuel López Obrador (AMLO) versprach eine Kehrtwende: Keine militärische Lösung, massive Korruptionsbekämpfung, Sozialprogramme. Nach knapp vier Jahren im Amt sieht die Realität düsterer aus als je zuvor. Der kürzlich erschienene Jahresbericht der US-amerikanischen Behörde DEA sieht satte 70 Prozent des mexikanischen Territoriums in der Gewaltspirale der Drogenbanden. Die Analysten sehen eine nahezu anarchische Situation angesichts der Übermacht der kriminellen Gruppen.

Zu Beginn des Krieges wurden täglich acht Menschen verschleppt, während der Vorgänger-Regierung stieg die Zahl auf 16; mittlerweile sind es 25 Personen pro Tag.

Die Enttäuschung über den ausbleibenden Wandel ist für die Mexikanerinnen und Mexikaner hart. Nach einer blutigen Revolution, über 70 Jahren Diktatur, einer kurzen Phase der Opposition, die auch keine Fortschritte brachte, schloss sich fast nahtlos der Drogenkrieg an. Seitdem geht es immer weiter bergab. All das Elend, das Leid, die Toten, diese extreme Gewalt hat die Gesellschaft hochgradig traumatisiert.

Expertin und DW-Kolumnistin Anabel Hernández, die aufgrund ihrer Recherchen aus Mexiko fliehen musste, konstatiert eine "abgestumpfte Gesellschaft, die sich scheinbar an all das gewöhnt hat, als wäre es ein folkloristisches Phänomen." Nachdem Präsident López Obrador nun mehr als die Hälfte seiner Amtszeit hinter sich hat, wird es Zeit, den Versprechungen rund um den vermeintlichen Strategiewechsel genau unter die Lupe zu nehmen.

Presse

Mexiko ist Weltmeister bei Morden an Pressevertretern. Zum vierten Mal in Folge stuft die Organisation "Reporter ohne Grenzen" Mexiko als gefährlichstes Land weltweit für Journalistinnen und Journalisten ein. Knapp 20 Prozent aller getöteten Medienschaffenden des Planeten entfallen auf Mexiko, konstatiert die frisch erschienene "Jahresbilanz der Pressefreiheit".

Merkwürdig erscheint, dass Mexiko trotz dieser extremen Umstände weniger kritisch eingestuft wird als beispielsweise Kuba, wo dieses Jahr kein einziger Journalist aufgrund seiner Arbeit ermordet wurde. Unliebsame Presse ausspähen, das machen Mexiko und Kuba gleichermaßen, in Mexiko aber stehen Journalisten auf Todeslisten. In offiziellen Statistiken steht Mexiko auf Platz sechs der gefährlichsten Länder für Journalisten – nach Syrien, Irak, Somalia, Afghanistan und Pakistan.

Nur rund zwei Prozent der Morde an Journalistinnen und Journalisten werden aufgeklärt. Der größte Feind der freien Presse sind nicht etwa die kriminellen Gruppen. Dieser Mythos hält sich hartnäckig. Die singuläre Super-Gefahr sind nicht kriminelle Banden, sondern der Staat selbst. Für rund 40 Prozent der Aggressionen gegenüber Pressevertretern sind Behörden verantwortlich, wie die Organisation Article 19 in Mexiko immer wieder betont.

Auch gezielte Tötungen von zu kritischen Berichterstattern wird in vielen Fällen von Lokalpolitikern, Bürgermeistern oder ähnlichen Akteurinnen und Akteuren in Auftrag gegeben. Wenn überhaupt je ein oder mehrere Täter gefasst werden, sind das in den meisten Fällen die, die den Abzug gedrückt hatten – nicht aber die Auftraggeber.

Demonstration gegen den Mord an dem mexikanischen Journalisten Javier Valdez Cárdenas im Mai 2017. Bild: ProtoplasmaKid / CC-BY-SA-4.0

Unter der Administration López Obradors verschlechterte sich die Situation für die Presse nochmals massiv. Auf gesetzgeberischer Ebene gab es tatsächlich Verbesserungen zu verzeichnen, doch der politische Wille zur Umsetzung fehlt. Während offiziell stets bekundet wird, dass man alles tue, um Berichterstatter zu schützen, sieht das in der Praxis ganz anders aus.

Der Präsident diffamiert Medienschaffende, die seine Regierung, sein Handeln als Staatschef kritisieren, stigmatisiert und schießt gegen Medien, die nicht so berichten, wie es ihm in den Kram passt.

In seinen morgendlichen Pressekonferenzen, die Montag bis Freitag stattfinden und gerne mal mehrere Stunden dauern, nutzt der Präsident oft die Bühne, um gegen die Presse zu hetzen. Einmal die Woche präsentiert die Kommunikationsabteilung der Regierung in dem Segment "Wer ist wer?" vermeintliche Lügen und Fake News der Presse.

Die Organisation Article 19 wollte in einer formalen Anfrage von der Regierung wissen, auf welcher Datenbasis diese Anschuldigungen basieren. Die Antwort: Man wisse es selbst nicht. Das bedeutet, dass der Präsident öffentlichkeitswirksam und ohne jegliche Faktenbasis Medien angreifen kann.

Erst vergangene Woche gab es in Mexiko-Stadt ein Attentat gegen Ciro Gómez Levya. Als eines der bekanntesten Mediengesichter der Nation ist er zwar umstritten und steht gelegentlich in der Kritik, aber dennoch ist er für kritischen Journalismus bekannt.

Nur zwei Tage vor den Pistolenschüssen auf das Auto, das er fuhr, sagte Staatschef López Obrador, es sei "schädlich für die Gesundheit", Journalisten wie Gómez Levya zuzuhören. Man könnte "einen Gehirntumor" davontragen, wenn man zu viele Inhalte des Journalisten konsumiere.

Hass und Hetze bereiten den Nährboden für ein pressefeindliches Ambiente. Im Vergleich zur Vorgänger-Regierung unter Enrique Peña Nieto sind unter den ersten drei Jahren der Amtsführung AMLOs Aggressionen gegenüber der Presse um 85 Prozent angestiegen.

Seit Amtsantritt wurden 36 Medienschaffende aufgrund ihrer Arbeit ermordet. Gegenüber Journalistinnen war im Vergleichszeitraum ein Anstieg um 209 Prozent an zusätzlicher Aggressionen zu verzeichnen.

Situation für Frauen

Einige Männer mittleren Alters in Mexiko gerieren sich gerne als erfahrene Sozialwissenschaftler, verkünden im Brustton der Überzeugung: "Frauen haben jetzt sogar mehr Rechte als wir Männer hier". Was das konkret bedeuten soll, bleibt natürlich ungewiss. In einer derart machistischen Gesellschaft wie der mexikanischen überraschen solche Thesen als Affektreaktion auf einen stärker werdenden Feminismus nicht.

Täglich werden in Mexiko rund zehn Frauen ermordet. Das heißt nicht, wie gerne fälschlich angenommen, dass jeden Tag zehn Femizide, also Frauenmorde, stattfinden. Dennoch nimmt Mexiko in der Region den zweiten Platz ein: Nach Brasilien hat kein Land mehr geschlechtsspezifische Morde vorzuweisen.

Schon 2017 hob ein UN-Bericht die Problematik hervor, sprach von "epidemischen" Ausmaßen. Und die Zahl der Frauenmorde steigt und steigt. Zudem erschweren Budgetkürzungen der Regierung für Hilfsinitiativen eine dringend notwendige Sozialarbeit.

Eine tatsächliche Verbesserung der Lebensverhältnisse für Frauen lässt noch auf sich warten. Sie sind nach wie vor eine der vulnerabelsten Bevölkerungsgruppen in Mexiko. Vergewaltigung, Missbrauch, Säureattacken, Verschleppung und Zwangsprostitution – jede kann zum Opfer werden. Männer in Mexiko werden meist erst dann für das Thema sensibilisiert, wenn es die eigene Tochter, Tante, Schwester oder Cousine trifft.

Sicherheitslage und Korruption

Dass der Staat zunehmend die Kontrolle über sein eigenes Gebiet verliert, und kriminelle Gruppen, mit denen der Staat paktiert, mächtiger als selbiger werden, wird immer offensichtlicher. Das Militär hatte am 17. Oktober 2019 einen klaren Auftrag: Ovidio Guzmán Salazar schnappen, eines der insgesamt 18 Kinder des Drogenbosses Joaquín Guzmán Loera, alias "El Chapo". Die Stadt Culiacán verwandelte sich binnen Stunden in eine Kriegszone. Ein- und Ausgänge in die Stadt wurden von Kriminellen des Sinaloa-Kartells blockiert.

Alles wurde abgeriegelt. Militärisch waren sie den Streitkräften überlegen, nach kurzer Zeit bekamen diese dann Befehl von oben, sich zurückzuziehen – und den erfolgreich festgenommenen Sohn von El Chapo wieder freizulassen. Eine derart heftige Kapitulation des Rechtsstaats hat man in Mexiko zuvor selten gesehen.

Nicht mal ein halbes Jahr später schüttelte Präsident López Obrador bei einem Besuch in El Chapos Herkunftsort Badiraguato freundlich grinsend die Hand von dessen Mutter. Dieses Jahr, am 16. Mai 2022, überschritt Mexiko nach offiziellen Zahlen die Grenze von 100.000 Verschwundenen. Seit Beginn des Drogenkriegs ist ein Anstieg um 4.086 Prozent an Fällen von gewaltsamen Verschwindenlassens zu verzeichnen. Mord ist mittlerweile die Todesursache Nummer eins unter Männern zwischen 15 und 34 Jahren.

Die Doktrin "Abrazos, no balazos" – "Umarmungen, keine Kugeln – ging nach hinten los. Der Krieg im Land weitet sich aus. Zur gleichen Zeit expandieren mächtige Gruppen wie das Sinaloa-Kartell oder das Jalisco-Kartell Neue Generation. In Europa waschen sie Geld in Albanien und knüpfen Kontakte in Spanien und Italien.

Die Toten und das Leid werden bleiben jedoch zu Hause in Mexiko: Ein Bericht der UN zählt über 52.000 nicht identifizierte Leichen, bemerkt eine forensische Krise. Unter den derzeitigen Bedingungen würde es 120 Jahre dauern, um alleine die bisher aufgefundenen namenlosen Leichen zu identifizieren – ohne die täglich neu hinzukommenden zu zählen.

Seit Amtsbeginn sagte der Präsident in seinen Reden 857 Mal, dass es keine Korruption mehr gebe. Die Verstrickung von Organisierter Kriminalität und staatlichen Institutionen sowie das Unterschlagen öffentlicher Gelder von Funktionären läuft jedoch munter weiter.

Nicht zuletzt das massive Datenleak von Servern des Verteidigungsministeriums Sedena offenbarte die Verbindungen einiger Lokalpolitiker mit Kriminellen, sowie die Passivität der Streitkräfte beim Verfolgen der Delinquenten. Der "Corruption Perception Index" der Organisation Transparency International stuft die Entwicklung in Mexiko leicht positiv ein: 2018 war das Land noch auf Platz 138 (von 180), zeigt der letzte Bericht Mexiko auf Platz 124.

Als vergangenen August erneut eine Gewaltwelle über verschiedene Staaten Mexikos rollte, hob ein Kommentar der Bürgermeisterin Tijuanas das Niveau an Verzweiflung besonders hervor: Sie bat die Anhänger des Organisierten Verbrechens, "die Rechnungen von denjenigen einzufordern, die ihre Schulden nicht bezahlt haben, nicht von den Familien, nicht von den arbeitenden Bürgern".

Militarisierung

Alles beim Alten: Wer auf den Straßen und Autobahnen Mexikos heute unterwegs ist, und das zehn Jahre zuvor schon tat, wird keinen Unterschied feststellen. Das ist, würde man den amtierenden Präsidenten beim Wort nehmen, eine Überraschung. Denn ein fixes Versprechen war, dass die Streitkräfte wieder zurück in die Kasernen kehren. Stattdessen sieht es derzeit so aus, dass die Militärs bis 2028 auf den Straßen bleiben.

Das Militär ist involviert beim Bau öffentlicher Infrastruktur, beim Impfen, auf den Autobahnen, auf den Straßen. Präsident AMLO schuf die Guardia Nacional (Nationalgarde), die aus vielen Elementen besteht, die zuvor bei der Polizei waren. Ein aktiver Militär aus Mexiko-Stadt sagte dem Autor dieses Artikels: "Aus meiner Sicht sollte das Militär nicht auf den Straßen patrouillieren, denn das ist Aufgabe der Polizeikräfte." Dass sie weniger korrupt seien als Polizisten, wie der Präsident argumentiert, stimme.

Mehr Militär half bisher jedoch nicht bei der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität. Die Menschen fühlen sich auch nicht sicherer. Ein kompletter Austausch der Truppen sowie umfassende Schulungen in Anti-Korruptionsmaßnahmen wären vonnöten, damit eine militärische Strategie effizient funktionieren könnte. Um die professionellen kriminellen Gruppen ganz auszuschalten, müsste jedoch eine Regierung an die Macht, die nicht mit ihnen paktiert – was in der jüngeren Geschichte Mexikos im Prinzip nie der Fall war.

Die Regierung Felipe Calderóns etwa, dem Architekten des Drogenkriegs, hielt regelmäßig Treffen mit den großen Drogenbossen ab. Das kam unter anderem deshalb ans Licht, da einer dieser Capos – Edgar Valdez Villareal alias "La Barbie" – jahrelang auch Agent für die DEA war.

Dauerkrise, Gewaltspirale: Was tun?

Die Strategie der Armutsbekämpfung werde die Drogenkartelle nicht schwächen, betont Investigativjournalistin und Expertin Anabel Hernández. Das "niederländische Beispiel" zeige uns, dass das nicht stimme: Obwohl das Land wirtschaftlich hervorragend dastehe, habe es sich zu einem der größten Produktionsstandorte für Methamphetamin entwickelt. Armut generiere nicht automatisch Kriminalität. "Sie tun das, weil sie es können, nicht, weil Menschen hungern, nicht, weil es soziale Ungerechtigkeit gibt", so Hernández im Interview mit Aristegui Noticias.

Ein starker Rechtsstaat bildet die Basis für eine effiziente Verbrechensbekämpfung. Das erklärt auch, weshalb sich Mexiko so schwertut: Korrupte Staatsanwaltschaften, Polizeikräfte und Politiker verhindern einen wahren Zugang zu Gerechtigkeit.

Investigativjournalistin Anabel Hernández empfiehlt das italienische Modell: Einfrieren von Konten, Vermögenswerten, Gebäuden, in denen die Mafia operiert. Die geschäftlichen Strukturen müsse man zerbrechen, die Geldwäsche unterbinden. In Italien hat man damit jahrzehntelange Erfahrung. Doch mit mehr politischem Wille wäre das auch in Mexiko denkbar – und Erfolge wären greifbar. Dieser Wille muss allerdings von ganz oben kommen.

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