Milliardenverlust: S21-Kostenexplosion seit zehn Jahren eingepreist

Seite 2: Grundstücke vermarkten

Aber bis zur Erlösung dauert es wahrscheinlich noch einmal länger. "Realistischer" ist laut Südwestdeutschem Rundfunk (SWR) ein Start im Jahr "2026 oder sogar 2027". Recherchen hätten "Fehlplanungen der Bahn" offenbart, "Verzögerungen beim Innenausbau der Bahnhofshalle und Probleme mit einem Partnerunternehmen, das bei der Digitalisierung des Bahnknotens Schwierigkeiten hat".

Vor wenigen Wochen erst wurden die dafür maßgeblichen Unternehmensteile aus der Thales Group an die japanische Hitachi Rail veräußert, wodurch es nun "Personalengpässe, unklare Strukturen sowie Lieferengpässe bei Materialien" gebe. Dabei soll gerade die Digitalisierung des Bahnknotens die vielen materiellen Mängel des Systems kompensieren.

Das Hauptdilemma besteht bekanntlich darin, dass der künftige Tiefbahnhof deutlich geringere Kapazitäten haben wird als der bisherige Kopfbahnhof. Schließlich soll dieser nur der Legende nach weichen, um den Bahnbetrieb zu optimieren. Faktisch geht es darum, Platz zu schaffen für die Vermarktung profitabler Grundstücke, auf denen sich heute noch ausgedehnte Gleisanlagen befinden.

Gott, steh uns bei!

Unter der Erde geht es viel enger zu, weshalb man die Performance komprimieren muss in der Hoffnung, die Defizite per Digitalisierung wieder wettzumachen. Schaffen soll dies das European Train Control System (ETCS), ein elektronisches Zugleitsystem, welches sich in der Praxis bisher allerdings als ausgesprochen störanfällig entpuppt und für allerhand Zugausfälle gesorgt hat.

Dass ausgerechnet diese Technologie Stuttgart 21 zum Erfolg führen, genauer gesagt retten soll, hat etwas von "Gott, steh uns bei". Selbst aus der Bahn-Führungsriege heißt es: "Dafür gibt es keine Blaupause." Und falls etwas schiefläuft? "Wir haben dafür keine fertigen Pläne in der Schublade, die wir dann aufmachen können und rausziehen können."

Dass es zeitlich eng werden könnte mit einer S21-Eröffnung in den nächsten zwei Jahren, schwant auch Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann von den Grünen, einst selbst passionierter S 21-Gegner. Dem SWR beschied er: "Von einem Holperstart haben wir alle nichts." Was besorgt den Mann? Schließlich steht die "21" im Projekttitel für das 21. Jahrhundert. Damit bleibt doch noch reichlich Spielraum …

Einfache Bürger bluten

Aber spaßig ist das alles nicht, primär nicht für die Steuerzahler. Denn alles, was das Projekt kostet und noch mehr kostet, muss am Ende die Allgemeinheit übernehmen, denn die Bahn gehört nun einmal dem Staat. Daran ändert auch der laufende Rechtsstreit vor dem Stuttgarter Verwaltungsgericht nichts, mit dem die DB-Spitze die Mehrbelastungen auf die Projektpartner abzuwälzen versucht.

Bisher weigern sich das Land Baden-Württemberg, der Flughafen Stuttgart, die Stadt Stuttgart und der Verband Region Stuttgart beharrlich, mehr als die vertraglich fixierten 930 Millionen Euro beizusteuern. Der Betrag wurde jedoch bei Baubeginn veranschlagt, als es bloß um insgesamt 4,5 Milliarden Euro ging. Die Chancen der DB stehen deshalb nicht schlecht. Denn bei allem, was über die Summe hinausgeht, nehmen laut Kontrakt die "EIU", also die Bahn-Unternehmen, "und das Land Gespräche auf". Von einem "alles auf die Bahn", steht darin nichts.

Egal, wie die Sache ausgeht, bluten müssen am Ende die einfachen Bürger, ob in Bund, Land oder Stadt. Hannes Rockenbauch von der Partei Stuttgart Ökologisch Sozial (SÖS) sieht schwarz: "Wenn die Bahn AG damit durchkommt, ist die Stadt zahlungsunfähig." Mittlerweile stünden Beträge im Raum, "die es gebraucht hätte, die gesamte Stadt Stuttgart in einem umfassenden Sinne klimaneutral zu machen".

Zehn Milliarden mehr

Das stimmt nicht ganz. Denn Stuttgart 21 ist längst mehr als gemeinhin gedacht. Um den ganzen Defiziten Herr zu werden, die "dieses Schienenrückbauprojekt" (Rockenbauch) mit sich bringt, wurde eine Reihe sogenannter Ergänzungsprojekte angestoßen – mit weiteren fast 50 Kilometern an Tunnelröhren, darunter die längste Eisenbahnröhre Deutschlands zwischen Böblingen und dem Flughafen Stuttgart.

"Der Irrsinn der neuen Ideen zeigt sich etwa darin, dass man eine bereits fertige Tunnelröhre wieder aufreißen will, um den Anschluss für weitere zusätzliche Tunnel herzustellen", äußerte sich Dieter Reicherter, Sprecher beim Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21, gegenüber Telepolis.

Der DB-Kritiker rechnet mit Arbeiten, die bis in die 2040er-Jahre andauern könnten, massive Klimafolgen hätten und nach vorsichtigen Schätzungen weitere fünf Milliarden kosten sollen. Aber Reicherter ist Realist: "Ohne allzu pessimistisch sein zu wollen, darf man getrost von weiteren zehn Milliarden Euro ausgehen."

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