Millionen Menschen vom Hungertod bedroht

Symbolbild: janeb13/Pixabay

Der Ukrainekrieg, die Abhängigkeit von Weizenimporten und was im Dunkeln bleibt.

Bis zu 828 Millionen Menschen weltweit sind chronisch unterernährt, so der aktuelle Bericht der Welthungerhilfe: "Uns erreichen aus allen Projektländern verzweifelte Hilferufe." Hingewiesen wird auf den Ukrainekrieg als Verstärker der ohnehin dramatischen Ernährungslage.

Der Ukrainekrieg legt, wie schon die Auswirkungen der Corona-Krise, Abhängigkeiten in scharfer Weise bloß. Die Unterbrechungen in den Lieferketten führen die Kehrseite einer Wirtschaft vor, die aus Kostengründen einen wichtigen Teil der Produktion ausgelagert hat. Die Probleme mit dem Import der Energiequellen Erdgas und Öl führen nicht nur Abhängigkeiten vor, sondern rücken auch die Märkte und für wenige profitable Regeln in den Blick, die die Preise bestimmen. Ähnliches ist auch bei den Nahrungsmitteln der Fall.

Syrien

Wie die Verteuerung von Grundnahrungsmitteln im täglichen Leben aussehen kann, dafür gibt es eindrückliche Bilder, nicht nur aus Afrika, wo sich die Not laut Welthungerhilfe weiter verschlimmert hat:

Von Afghanistan bis Zimbabwe kämpfen die Menschen mit Preissteigerungen für Brot, Getreide oder Obst um bis zu 60 Prozent. Es leiden insbesondere diejenigen am stärksten, die ohnehin zu den Ärmsten gehören und am wenigsten zu den Krisen beigetragen haben. Zugespitzt hat sich Lage insbesondere am Horn von Afrika, wo 17 Millionen Menschen nicht mehr genug zu essen haben. In Somalia, Kenia und Äthiopien herrscht die schlimmste Dürre seit 40 Jahren.

Welthungerhilfe

Auch in Syrien gibt es lange Warteschlangen vor den Bäckereien, die vom Staat subventioniertes Brot kaufen, da der Marktpreis für das Brot für Normalverdiener so gut wie unerschwinglich geworden sei, wie der Syrien-Beobachter Ehsani22 dieser Tage mitteilte. Unicef kann seit 1. Juli an syrische Bäckereien keinen kostenlosen Weizen mehr abgeben, so sein Informationsstand.

Am syrischen Beispiel wird ein Problem-Mix zur Nahrungsmittelverteuerung bzw. -knappheit anschaulich. Zum Klimawandel, der Anbau und Ernte gefährdet, einem veralteten autoritären politischen System, kommen politische Konflikte hinzu - westliche Sanktionen tragen wesentlich zur Verarmung des Landes bei.

Es zeigt sich ein komplexer Hintergrund von Abhängigkeiten, der bei alarmierenden Meldungen mitzubedenken ist, aber bei der Analyse der Misere seltener einbezogen wird.

Viele Familien (in Syrien, Einf. d. A.) sind ohne Einkommen ganz auf humanitäre Hilfe angewiesen. Selbst diejenigen, die etwas verdienen, können ihren Grundbedarf kaum decken. Die Preise für Nahrungsmittel steigen ungebremst, verschärft durch die Corona-Krise.

Nach Angaben der Vereinten Nationen leben im Nordwesten des Landes 2,8 Millionen Binnenvertriebene, 1,7 Millionen von ihnen in Camps mit notdürftigen Behausungen, ohne ausreichenden Zugang zu Wasser und Strom. Neben Armut, Perspektivlosigkeit und der Angst vor Corona ist der zunehmende Hunger eines der größten Probleme. Bericht der Welthungerhilfe, S. 20

Der Alarm

Der Bericht der Welthungerhilfe bekam heute Morgen viel Medienaufmerksamkeit durch aufschreckenden Alarm – "Millionen Menschen droht der Hungertod" (Tagesschau), der, wie es zu wünschen ist, die Spendenbereitschaft für die umfangreichen Hilfsaktionen erhöhen soll.

Wie sich beim derzeit akuten Problem der Weizenexporte aus der Ukraine auftut, hat die damit verbundene Krise der Nahrungsmittelknappheit und -verteuerung allerdings mehrere Ebenen.

Die Abhängigkeit vom Weizen

Rückt man kurz weg vom Brennpunkt der Kriegslogik im Fall der angegriffenen Ukraine, die ihre Häfen mit Minen schützt, und den Machtinteressen des Angreifers Russland im Schwarzen Meer, so stellt sich die triviale Frage: Wie ist es angesichts anderer Nahrungsmittel – wie zum Beispiel Reis – dazu gekommen, dass die Abhängigkeit von Weizen so gravierend geworden ist?

Welche politischen und wirtschaftlichen Interessen stehen hier im Hintergrund? Hat die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) zu sehr auf Weizen gesetzt, wie ihr Kritiker vorwerfen?

Einen Einblick in die Vielschichtigkeit des Weizen-Problems gibt Francisco Marí, Referent für Welternährung, Agrarhandel und Meerespolitik beim Entwicklungswerk Brot für die Welt, das die aktuelle "Hunger-Krise durch den Ukraine-Krieg" ebenfalls zum Thema hat. Dieses aber weiter aufschlüsselt, so dass auch die Tiermast hierzulande in den Problem-Fokus gerät.

"Zur Freude der europäischen Agrarexporteure"

Marí, Projektreferent für Lobby- und Anwaltschaftsarbeit in den Bereichen Welternährung, Agrarhandel und Meerespolitik, weist in seinem Interview auf Abhängigkeiten hin, die durch Billigexporte mit Weizen befördert wurden und wie Gewohnheiten verändert wurden:

In West- und Zentralafrika, aber auch in Ostafrika ist die Abhängigkeit Relikt einst sehr günstiger Weizenexporte aus der Europäischen Union. Hoch subventionierte Weizenimporte haben das Ernährungsverhalten der Menschen, besonders in den Städten, weg von einheimischem Getreide und Nahrungsvielfalt hin zum Brotkonsum innerhalb weniger Jahrzehnte stark verändert.

Vor allem in frankophonen westafrikanischen Staaten ist die tägliche Baguette-Stange auch ein wenig Symbol, dass man Teil einer globalisierten Ernährungswelt ist.

Ist Brot in einem Land dann erst einmal Grundnahrungsmittel, ist der Brotpreis ähnlich wie bei uns das Maß für alle Nahrungsmittel. Viele Regierungen sind gezwungen, den Brotpreis zu stützen, damit dieser das günstigste Grundnahrungsmittel bleibt.

Die Staaten sind hoch abhängig von Importen, auch zur Freude der europäischen Agrarexporteure. Diese durch EU-Billigimporte erzwungene Nahrungsveränderung in Westafrika entwickelt sich zur Ernährungs- und oft auch zur politischen Krise, wenn die Weizenpreise auf dem Weltmarkt steigen.

Francisco Marí

Die Fixierung auf Weizen in Afrika sei "gar nicht notwendig", so Marí. Es würde für die Länder allerdings mit "größeren Anstrengungen" verbunden, nun umzustellen und klimatisch angepasste Getreidearten anzubauen. Als Beispiele nennt er Sorghum, eine Hirseart, die früher in Ägypten sehr häufig angebaut wurde (vgl. dazu Afrika: Wege aus der Hungersnot), oder Fonio südlich des Sahel.

Der aktuellen Situation gewinnt er die Hoffnung ab, dass sie zum Umdenken führen könnte. "Fehlende Getreideimporte sollten durch andere Nahrungsmittel ersetzt oder die Produktion im eigenen Land erhöht werden."

Leicht ist der Schritt, sich aus der Abhängigkeit von EU-Importen zu lösen, aber nicht, wie Marí am Beispiel von Senegal und Kenia zeigt. Beide Länder wollten EU-Weizen durch Importe aus der Schwarzmeerregion ersetzen, um unabhängiger zu werden...