Mindestlohn: Armut, neu definiert

Seite 2: Wenn es eine Chance auf Lohndrückerei gibt, nutzen Unternehmen sie

Aktuell sind nur noch rund die Hälfte der Unternehmen tarifgebunden. Die Zahl der Löhne und Gehälter unterhalb der Mindestlöhne in den Tarifverträgen fällt entsprechend hoch aus - rund zehn Millionen eben. Die SPD mit ihrem Arbeitsminister Hubertus Heil wird da schon richtig gerechnet haben. Aber was stört denn aus ihrer Sicht und der der übrigen Parteien an diesem Zustand?

Dass die Unternehmen eiskalt jede Gelegenheit nutzen, ihren Beschäftigten so wenig wie nur irgend möglich zu zahlen? Dass sie damit den Gegensatz rücksichtslos ausreizen zwischen dem Betrieb, der Geld hat, Leute für seinen Gewinn schuften zu lassen, und denen, die darauf angewiesen sind, für diesen fremden Gewinn arbeiten zu dürfen? Dann wäre ja eine ziemlich prinzipielle Kritik am Kapital fällig. Denn offenbar handelt es sich um einen systematischen Umgang mit den Arbeitnehmern, keine Ausnahme.

Nein, mit einer solchen Kritik haben die Bundestagsparteien natürlich nichts am Hut. Lange galt ein gesetzlicher Mindestlohn auch als verpönt. Da paarte sich eine verräterische Sorge der Politik mit der Furcht der Gewerkschaften vor dem Verlust von Gestaltungsmacht: Würde eine allgemein verbindliche Untergrenze nicht viele Arbeitsplätze kosten, weil die Unternehmen dann die mit einem Schlag teureren Beschäftigten entließen? Was doch einem wirtschaftswissenschaftlich gebildeten Menschen einleuchten müsste!

Der arme Betrieb könnte dann halt nicht anders... Die Gewerkschaften wiederum fürchteten um ihre Bedeutung, wenn nicht mehr alle Löhne und Gehälter sie, sondern einige der Staat bestimmte. Zumal damit das Eingeständnis verbunden wäre, dass sie es nicht geschafft haben, ihre Mitglieder vor Dumping-Löhnen zu bewahren.

Bessere Bedingungen schaffen - nicht für die Arbeitnehmer, sondern für die Firmen

In beiden Perspektiven kamen seltsamerweise die unter dem zu wenigen Geld fürs Leben leidenden Menschen überhaupt nicht vor. Dabei wurde die Ideologie ja nicht aufgegeben, dass man mit einer normalen Vollzeitbeschäftigung in diesem Deutschland sein Auskommen haben müsste.

Doch der Staat litt nicht am Dementi durch die Realität wachsender Verarmung. Sondern die umfassenden Reformen des Arbeitsmarkts durch die rot-grüne Bundesregierung 2003 hatten zum Ziel, "Deutschland bis Ende des Jahrzehnts bei Wohlstand und Arbeit wieder an die Spitze zu bringen" (Regierungserklärung Bundeskanzler Gerhard Schröder am 14. März 20032).

Es ging darum, für die Wirtschaft bessere Bedingungen zu schaffen mit "Agenda 2010", "Hartz IV" und weiteren Programmen: weniger Steuern; Senkung der betrieblichen Lohnnebenkosten durch Erhöhung der Sozialabgaben der Beschäftigten; Lockerung des Kündigungsschutzes; mehr Möglichkeiten für befristete Arbeitsverhältnisse und Leiharbeit; Druck auf Arbeitslose, auch schlechtere Stellen anzunehmen.

Tatsächlich hat die allgemeine Verbilligung der Arbeit die erwünschte belebende Wirkung entfaltet - auf die Wirtschaft. Die Unternehmen haben das staatliche Sonderangebot gern angenommen und weidlich genutzt. Millionen Betroffene indes sind unter das offizielle Existenzminimum gerutscht.

Was aus Sicht des Staates zwei bedenkliche Effekte nach sich zieht: Die Niedriglöhner stocken ihr mageres Einkommen mit Leistungen aus dem Sozialgesetzbuch auf. Und das würde wohl dann auch im Alter so bleiben, weil die Rente selbst für ein noch so bescheidenes Leben nicht reichen würde. Beides belastet nun zusätzlich die Sozialversicherungen, anstatt sie zu entlasten.

Aus Sicht der Sozialpolitiker durfte dies kein Dauerzustand werden: Dass nun sehr viele Menschen trotz Vollbeschäftigung auf staatliche Unterstützung angewiesen sind und entsprechend wenige Beiträge in die Sozialversicherungen einzahlen. Und damit der Staat die Billiglöhne der Betriebe subventioniert.