Mindestlohn: Armut, neu definiert
Seite 3: Direkt hinter der "Armutsgefährdungsgrenze" beginnt das "selbstbestimmte Leben"
- Mindestlohn: Armut, neu definiert
- Wenn es eine Chance auf Lohndrückerei gibt, nutzen Unternehmen sie
- Direkt hinter der "Armutsgefährdungsgrenze" beginnt das "selbstbestimmte Leben"
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Deshalb korrigierte der Staat die negativen Wirkungen auf seinen Sozialhaushalt: Seit 2015 gibt es einen gesetzlichen Mindestlohn. Wie viel Euro pro Arbeitsstunde nun zum Leben reichen muss, erörtert seither eine eigens hierfür eingerichtete Mindestlohnkommission, besetzt mit Vertretern der Arbeitgeber, der Gewerkschaften und der Volkswirtschaftslehre.
Ihre alle zwei Jahre aktualisierte Empfehlung geht dann an den Bundesarbeitsminister. Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit der Zollverwaltung ist dafür zuständig, die Einhaltung des Mindestlohns zu überwachen. Allzu intensiv wurde zumindest in den ersten Jahren nicht kontrolliert. Laut einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft erhielten 2017 rund 1,3 Millionen Arbeitnehmer den Mindestlohn nicht.
Aber ohnehin hatte die Große Koalition verständnisvoll den Unternehmen eine Übergangsphase zugestanden - damit sie sich behutsam in ihrer Geschäftskalkulation auf die neue Bedingung einstellen konnten. Irgendwie muss das im Verlauf der Jahre auch gelungen sein. Denn ein größerer Abbau von Arbeitsplätzen aufgrund des Mindestlohns ist nicht eingetreten, es lässt sich auch mit ihm ordentlich Gewinn erzielen.
Andererseits sichert der aktuell gültige Mindestlohn allerdings immer noch nicht das anerkannte Existenzminimum. Für den DGB ist daher klar:
Die Forderung nach 12 Euro entsteht nicht im luftleeren Raum. Gemäß der Armutsgefährdungsgrenze gilt ein Betroffener als arm, wenn er weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens des Landes verdient. Mit dem aktuellen Mindestlohn von 9,60 Euro erzielt man ein Einkommen unterhalb dieser Armutsgrenze.
Falls nun eine neue Bundesregierung einen auf 12 Euro angehobenen Mindestlohn für circa zehn Millionen Menschen beschließt - das soll nun den entscheidenden Unterschied ausmachen zwischen existenzbedrohender Armut und "selbstbestimmtem Leben heute und im Alter"3? Und ob, rechnet die Süddeutsche Zeitung vor4:
Wer heute als Verkäuferin, Kellner oder im Bürojob Mindestlohn bekommt, verdient in Vollzeit 1.600 Euro monatlich - vor Abzügen. Bei zwölf Euro wären es 2.000 Euro. Jeder, der Kinder versorgt oder in Ballungsräumen Miete bezahlt, würde das spüren
Ein paar Euro mehr für die Ideologie von der guten Vollbeschäftigung
Circa 400 Euro im Monat brutto trennen also Armut von ordentlichem Leben. Aber wäre nicht mit 500 Euro noch ein Kino- und ein Restaurantbesuch mehr drin, mit 600 Euro vielleicht sogar ein kleiner Urlaub? Und könnte man nicht mit 800 Euro mehr in eine halbwegs anständige Wohnung ziehen? Man merkt: Die richtige Höhe des Betrages ermitteln zu wollen, verfehlt das Thema. Denn wenn es nach den Bedürfnissen der Betroffenen ginge, kämen ganz andere und viel höhere Einkommenssprünge heraus.
Beim Mindestlohn geht es jedoch nicht darum. Sondern der Bedarf der Wirtschaft nach möglichst billigen Arbeitskräften soll in Einklang gebracht werden mit dem staatlichen Anspruch an ein Lohnniveau, das ein Minimum an Existenz ermöglicht - und an Beiträgen für die Sozialversicherungen.
Jeder, der in Vollzeit beschäftigt ist, bekommt gutes Geld und kann davon in Deutschland ordentlich leben. Diese Ideologie lässt sich der Staat vielleicht bald sogar einen Mindestlohn von 12 Euro die Stunde kosten.