Mit Militanten für Menschenrechte

EU-Parlamentspräsident Antonio Tajani mit den Preisträgern. Bild: European Union 2017/EP

Das Europäische Parlament hat sich mit der Verleihung des Sacharow-Preises an venezolanische Oppositionelle politisch verrannt

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Das Europäische Parlament hat am Mittwoch den diesjährigen Sacharow-Preis an die Vertreter Opposition in Venezuela verliehen. Bei der Zeremonie in Straßburg sagte der konservative Parlamentspräsident Antonio Tajani, es sei "der bedeutendste Preis, den die EU an jene verleiht, die Menschenrechte verteidigen". Die Verleihung war jedoch auch von Kritik von Europaabgeordneten und einer Reihe von Unstimmigkeiten überschattet.

Die in Straßburg anwesenden Vertreter der Opposition bedankten sich für die mit 50.000 Euro dotierte Auszeichnung. "Wir werden unseren Kampf so lange fortführen, bis die demokratische Opposition in unserem Lande gewinnt", sagte der Präsident des oppositionell dominierten Parlaments, Julio Borges. Die Regierung von Präsident Nicolás Maduro habe "die Demokratie in Geiselhaft genommen", sagte der Politiker der rechtspopulistischen Partei Primero Justicia (Zuerst Gerechtigkeit, PJ). Der Regierung von Maduro warf Borges vor, für "nicht gekannte Armut" in dem eigentlich reichen Erdölstaat verantwortlich zu sein.

Auch der ehemalige Bürgermeister von Groß-Caracas, Antonio Ledezma, gab sich kämpferisch. "Wir lassen nicht zu, dass man den Geist einsperrt", so der Politiker von der Alianza Bravo Pueblo (Allianz Mutiges Volk, ABP). Ledezma ist Sprecher der inhaftierten Oppositionspolitiker, die von den Regierungsgegnern als politische Gefangene bezeichnet werden. Er lebt inzwischen im Exil in Spanien. Der Preis des Europaparlaments, sagte er, "verleiht uns neue Energie, um unseren Kampf für die Werte der Demokratie fortzusetzen, die wir alle teilen".

Kritik von linken Abgeordneten

Genau das aber wurde von einem Teil der Europa-Abgeordneten bestritten. Vertreter der linksgerichteten Fraktion GUE/NGL blieben der Verleihung am Mittwoch demonstrativ fern. Sie sprachen von einer "Instrumentalisierung" des Preises. "Wir glauben nicht, dass die Politiker, die von Europaparlament als demokratische Opposition in Venezuela bezeichnet werden, dieses Kriterium erfüllen", heißt es in einer Erklärung.

Die am Mittwoch prämierten Personen gehörten zu einer "gewalttätigen Opposition, die seit 2002 versucht, über Staatsstreiche Regierungen zu stürzen, die vom venezolanischen Volk demokratisch gewählt wurden". Die EU stelle sich damit auf die Seite der politischen Gewalt in Venezuela.

Die spanischen Mitglieder der Fraktion sprachen sich zugleich dafür aus, den Sacharow-Preis künftig wieder zu nutzen, um politische und soziale Rechte zu stärken: "Immerhin reden wir von einer Europäischen Union, in der es die Ungleichheit und soziale Ausgrenzung für rund 120 Millionen Menschen unmöglich macht, in den vollen Genuss ihrer Menschenrechte zu kommen, weil sie zu einem Leben in Armut und Ausgrenzung verdammt sind."

Der nach dem sowjetischen Physiker, Friedensnobelpreisträger und Dissidenten Andrei Dmitrijewitsch Sacharow benannte Menschenrechtspreis wird seit 1988 verliehen. In den vergangenen Jahren hatte es wiederholt Debatten um die Auswahl der Preisträger gegeben, die seit geraumer Zeit nicht mehr im Konsensprinzip bestimmt werden.

Unter den Geehrten in diesem Jahr befinden sich auch der rechtsgerichtete Politiker Leopoldo López und der Studentenaktivist Lorent Saleh. Für die Mehrheit des Europäischen Parlaments vertreten López und Saleh die "politischen Gefangenen in Venezuela". López spielte bereits bei einem Putschversuch 2002 eine Rolle. Gegenwärtig verbüßt er eine in Hausarrest umgewandelte Haftstrafe. Ihm wird die maßgebliche Verantwortung für gewalttätige Proteste im Jahr 2014 zugewiesen, die den Sturz der Regierung von Präsident Maduro zum Ziel hatten und mehr als 40 Todesopfer forderten.

Saleh stand der Nichtregierungsorganisation "Operation Freiheit" vor, die sich die "Bekämpfung der Linken auf dem gesamten Kontinent" zum Programm gemacht hat. Der heute 30-Jährige wurde im September 2014 von Kolumbien an Venezuela ausgeliefert, da die kolumbianischen Behörden Salehs Aufbau eines Netzwerks von Paramilitärs und Gegnern des kolumbianischen Friedensprozesses um den ehemaligen Präsidenten Álvaro Uribe sowie der venezolanischen Rechten unterbinden wollten.

Unterschiedliche Bewertungen der Preisträger

Politisch wurde die Preisverleihung sehr unterschiedlich bewertet. "Die Preisvergabe an die demokratische Opposition in Venezuela ist ein wichtiges Zeichen des EU-Parlaments für den Schutz von Demokratie und Menschenrechten und gegen autokratisches Handeln in Lateinamerika", sagte Petra Kammerevert, stellvertretendes Mitglied im Menschenrechtsausschuss des EU-Parlaments.

Erst Anfang der Woche habe Präsident Maduro einen Großteil der Oppositionsparteien von den anstehenden Parlamentswahlen ausgeschlossen, so Kammerevert: "Damit ist noch einmal sehr deutlich geworden, dass die demokratischen und rechtsstaatlichen Grundsätze in Venezuela weiter eingeschränkt werden." Es sei daher "richtig und notwendig", dass sich das Europaparlament mit den vielen jungen Menschen und politischen Aktivisten solidarisch zeigt, die gegen den venezolanischen Präsidenten auf die Straße gehen.

Die Europapolitikerin der SPD bezog sich mit ihrem Kommentar auf einen Vorstoß Maduros, drei Parteien von den Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr auszuschließen, weil sie am Wochenende die Lokalwahlen boykottiert haben. Die drei Parteien gehören dem Bündnis Tisch der demokratischen Einheit an, das aus 18 Parteien besteht.

Kritik kam auch aus Berlin. "Während Sacharows Kritik an der sowjetischen Führung stets von Gewaltfreiheit geprägt war, stehen einige der nun Prämierten aus Venezuela für das krasse Gegenteil: blutige Proteste, Putschversuche, Schwulenhass und Rechtsextremismus", sagte die Vizevorsitzende der Linken im Bundestag, Heike Hänsel. Leopoldo López habe 2002 einen Putsch gegen die Regierung unterstützt. Antonio Ledezma sei mitverantwortlich für die Niederschlagung von Sozialprotesten 1989 mit mutmaßlich tausenden Toten. Lorent Saleh habe Kontakte zu Neonazis sowie rechtsextremen Paramilitärs in Kolumbien unterhalten.

"An Zynismus kaum zu überbieten ist die Behauptung des Preiskomitees, in Venezuela seien jüngst 'mehr als 130 Oppositionelle ermordet' worden", so Hänsel weiter. Denn tatsächlich handele es sich bei den Opfern, "von denen jedes einzelne eines zu viel ist", nicht nur um Tote durch Polizeigewalt, sondern auch um Unbeteiligte und ebenso Anhänger der Regierung.

Widersprüche vor Preisverleihung

Dafür, dass sich das Präsidium des Europaparlaments mit den Preisträgern politisch verrannt hat, sprechen mehrere Indizien. Zu einen betrifft das die von Hänsel kritisierte Zahl von 130 toten Oppositionellen. Die von der Presse hinreichend dokumentierte Angabe bezieht sich auf die Gesamtzahl der Todesopfer während der Proteste der Regierungsgegner seit April dieses Jahres. Darunter fallen aber auch Vertreter des Regierungslagers, die angegriffen und von denen einige bei lebendigem Leib verbrannt wurden.

Aus dem Europaparlament hieß es auf Telepolis-Anfrage, dass die Zahl der 130 toten Oppositionellen von der Nichtregierungsorganisation Foro Penal Venezolano stammt. Diese Organisation steht der Opposition nahe und ist keine unabhängige Quelle. Offenbar wurde die Zahl aber nicht mehr überprüft.

In einer internen Information über die Preisträger heißt es in den biografischen Angaben über den Oppositionspolitiker Saleh: "Er reiste nach Kolumbien, wo er die Beziehungen zu lokalen Organisationen und einigen paramilitärischen Bewegungen ausbaute." Ein erstaunliches Bekenntnis, schließlich werden die rechtsgerichteten Paramilitärs in Kolumbien für einen Großteil der Menschenrechtsverbrechen der vergangenen Jahrzehnte verantwortlich gemacht.

Während seines Aufenthalts in Kolumbien entstand ein Foto von Saleh in Kampfmontur mit Maschinengewehr. Zudem hat er Medienberichten zufolge an Treffen einer kolumbianischen Nazigruppierung teilgenommen.

Aus dem Europaparlament hieß es auf Nachfrage, es handele sich bei den biografischen Angaben um "eine interne Information, die nicht die Position des Parlaments wiedergibt". Allerdings wurde die Biografie vom Parlamentssekretariat an die Abgeordneten verschickt. Den Dokumentinformationen wurde sie am 30. November von einem Parlamentscomputer erstellt, der auf den Namen Olga Blatakova angemeldet war.