Moratorium für die Todesstrafe

Der Gouverneur von Illinois bricht aus der Phalanx der Befürworter aus

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Geradezu unbeachtet von den internationalen Massenmedien, die zur Zeit den traditionellen Vierjahresrummel um die Vorwahlen in New Hampshire veranstalten, war am Montag im Bundesstaat Illinois eine seltene Stimme der Vernunft zu vernehmen. Gouverneur George Ryan kündigte ein Moratorium für die Todesstrafe an, das erste in den USA, und begründete es mit dem "schändlichen staatlichen Rekord, unschuldige Menschen zum Tode zu verurteilen.

Gouverneur Ryan ist wie die meisten seiner Kollegen in anderen Staaten ein ausgesprochener Todesstrafen-Befürworter. Und seit der Wiederzulassung der Todesstrafe durch ein Bundesgericht wurden seit 1977 in Illinois 12 Gefangene mit tödlichen Giftinjektionen von staatlichen Henkern umgebracht. Doch im selben Zeitraum musste Illinois auch 13 Todeszelleninsassen freilassen, deren Unschuld die Familienangehörigen, Todesstrafengegner und Anwälte jeweils in Kleinstarbeit nachweisen konnten. Gouverneur Ryan muss es aus Furcht, die Verantwortung für einen unschuldig Hingerichteten übernehmen zu müssen, und vor Angst um den Verlust seines Jobs so umgetrieben haben, dass er jetzt bereit ist, sich dem Druck der Todesstrafen-Lobby auszusetzen. Vorübergehend werden in Illinois keine Todesurteile mehr vollstreckt, und eine Untersuchungskommission soll ermitteln.

Die Bürgerrechtsvereinigung American Civil Liberties Union lobte den Entschluss Ryans und sah ihn gleichzeitig als Beweis dafür, wie "diskreditiert das Todesstrafensystem inzwischen ist". Es gebe noch sehr viel mehr Menschen in amerikanischen Todeszellen, die Justizopfer und völlig unschuldig seien. Auch Amnesty International hat einen Arbeitschwerpunkt auf die Todesstrafenpraxis in den USA gelegt und beobachtet die Vorgänge in den US-Bundestaaten genau.

Die Chicago Tribune berichtete vor kurzem, dass 33 Todeskandidaten ursprünglich Rechtsanwälte hatten, die entweder völlig inkompetent waren oder später von den Verfahren ihrer Mandanten zwangsweise ausgeschlossen wurden. In 46 Fällen hätten außerdem Ermittler und Richter die Aussagen von erpressten Mitgefangenen und bezahlten Spitzeln als "Zeugenaussagen" gegen die Angeklagten verwendet.

In einem berühmt gewordenen Fall staatlicher Willkür musste das Opfer 15 Jahre lang in der Todeszelle verbringen, Tag um Tag mit der Aussicht, kraft des Gesetzes hingerichtet zu werden. Anthony Porter stand in einer Phase seines Gefängnisaufenthalts bereits Stunden vor dem sicheren Tod. Erst letztes Jahr kam er frei, aber nur aufgrund der unermüdlichen Anstrengungen von Chicagoer Journalismus-Studenten.

Im letzten Monat mussten die Behörden einen weiteren Insassen freilassen, der aufgrund der "Zeugenaussagen" eines Knastspitzels zum Tode verurteilt worden war. Und derzeit stehen die Chancen für den von der Hinrichtung bedrohten Edgar Hope auf seine Freilassung nicht schlecht. Die Richter hatten ihn für den 1982 begangenen Mord an einem privaten Sicherheitsbeamten verurteilt. Grundlage war eine Augenzeugen-Aussage, die sich jetzt als völlig verdreht erwies. Zeugen seien aufgetaucht, die nie befragt wurden, und andere Zeugen hätten ausgesagt, zu erfundenen Aussagen gedrängt worden zu sein, heißt es in der Beschwerde, die von der Universität in Chicago nach eigenen Recherchen bei den Behörden eingereicht wurde. Doch nach wie vor befinden sich rund 150 Gefangene in den Todeszellen von Illinois.

Illinois, einer von 38 Todesstrafen-Staaten in den USA, könnte sich angesichts des mutigen Moratoriums als Stolperstein für die Todesstrafenlobby herausstellen. Unter dem texanischen Gouverneur George W. Bush, der bei vielen schon jetzt als neuer US-Präsident gehandelt wird, sterben derzeit Menschen wie am Fließband, weil er seine Unterschrift dazu gegeben hat. Doch US-Todesstrafengegner, die seit Jahren akribisch Daten sammeln und ihre Kritik an den Killerbehörden nicht zuletzt im Internet deutlich machen, glauben jetzt, dass die Entscheidung von Illinois das Thema Todesstrafe erstmals aus dem nationalen Leichenkeller holen könnte. Vielleicht müssen sich die vier aussichtsreichen Präsidentschaftskandidaten Bush, McCain, Gore und Bradley dann wirklich öffentlich der Frage stellen, weshalb sie allesamt für staatlichen Mord mit Giftspritze, Gaskammer und elektrischen Stuhl eintreten.