Mortal Kombat is the Massage

Beinflussen Computerspiele unser Gehirn?

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Kürzlich war ich auf einer Party, als ich beängstigende Neuigkeiten erfuhr. Ein Hinweis in Scientific American wies darauf hin, daß Videospiele die Chemie des Gehirns verändern.

In einer Untersuchung, die in der Zyklotron-Abteilung des Hammersmith Hospital in London durchgeführt wurde, fanden Dr. Paul Grasby und seine Kollegen heraus, daß das Spielen von Videospielen eine Ausschüttung von Dopamin im Gehirn auslöst. Die Einzelheiten, falls Sie daran interessiert sind: Die Wissenschaftler injizierten acht Versuchspersonen ein Markierungsmittel mit dem Namen Carbon-11 Raclopride. Das Molekül liegt mit der natürlich vorkommenden chemischen Substanz Dopamin im Wettstreit um die Rezeptoren im Gehirn. Bei der Untersuchung der Gehirne der Videospieler mit der Positron-Emission-Tomographie (PET), konnten die Wissenschaftler sehen, wieviele Rezeptoren mit ihrer Markierungssubstanz belegt waren. Je mehr Dopamin das Gehirn produzierte, desto weniger Platz gab es für das Carbon-11. Die Männer, die Videospiele spielten, hatten signifikant weniger Rezeptoren, die für Carbon-11 geöffnet waren, was bedeutet, daß sie große Mengen an Dopamin erzeugten.

Die Wissenschaftler sind der Überzeugung, sie hätten mit diesem ziemlichen mühsamen Verfahren gezeigt, daß Videospiele die Dopaminabgabe verdoppelt. Die Zunahme der Ausschüttung dieser psycho-aktiven chemischen Substanz war etwa genauso hoch, als wenn einem Menschen Amphetamine oder das Medikament Ritalin gegen die Aufmerksamkeitsschwäche (Attention Deficit Disorder) injiziert werden. Noch schlimmer ist, daß diese Veränderung der Gehirnchemie der erste harte Beweis ist, daß Viedeospiele süchtig machen.

Als jemand, der sich über den besorgten Aufschrei von Eltern und Lehrern über die Gefahr von Duke Nuke und anderen Spielen lustig gemacht hatte, war ich ganz niedergeschlagen. Wenn ich nicht schon mein drittes Glas Wein getrunken hätte, wäre ich nicht imstande gewesen, meine Mahlzeit abzuschließen. "Ich nehmen an, das bedeutet, daß du deine letzten drei Bücher zurückziehen wirst", sagte ein besonders bewanderter Medientheoretiker, ein Freund von mir, der hier namenlos bleiben soll.

Tatsächlich sieht es auf den ersten Blick so aus, als ob der alte Marschall McLuhan wieder einmal Recht gehabt haben sollte. Das Medium ist nicht nur die Botschaft (message), sondern auch die "Massage", was bedeuten soll, daß uns die Medien, die wir benutzen, unabhängig von ihrem Inhalt, körperlich und psychisch beeinflussen. Der flimmernde Fernsehbildschirm massiert unsere Gehirne auf eine Weise, die wir erst zu verstehen lernen. Wie die "brain machines" mit ihren blitzenden Lichtern, die New Agers an ihre Augen anbringen, um sie in meditative Zustände zu bringen, scheinen unsere Fernsehgeräte, Computer und Videospiele einen meßbaren Einfluß auf unsere Nervensysteme auszuüben.

Und der ist keineswegs gut. Nach der Untersuchung sind Videospiele das elektronische Äquivalent einer Dosis von Aufputschmitteln. Kein Wunder, daß so viele Kinder Ritalin und ähnliche chemische Substanzen brauchen, um in der Schule wach zu bleiben. Sie sind abhängig von hohen Dopaminspiegeln und können sich ohne diese auf nichts konzentrieren.

Welchen Einfluß übt mein Computerbildschirm aus? So fragte ich mich. Der meine ist auf eine Frequenz von 85 eingestellt, d.h. das Bild blitzt 85 Mal in der Sekunde auf. Bewirken andere Frequenzen etwas anderes? Ist das der Grund, warum ich mich so genötigt fühle, meine EMail anzusehen, bevor ich ins Bett gehe? Bin ich süchtig nach dem Bildschirm?

Und was ist mit all den Eltern und Kindern, denen ich erzählt habe, sich keine Sorgen über ihre Vorliebe für Videospiele zu machen? Habe ich sie zu einem Leben in Abhängigkeit oder zu einem qualvollen Entzug in einer künftigen Klinik für Videospiele verdammt?

Ich warf einen genauen zweiten Blick auf die Untersuchung, wie sie von Scientific American veröffentlicht wurde, und fand nichts, was mich aufrichtete. Daher griff ich zu einem früheren Bericht, der in New Scientist erschienen ist. Hier fand ich meine Erlösung.

Die Versuchspersonen der Experimente spielten nicht einfach Videospiele. Sie spielten um "Geld". Die Männer könnten Preise für das erfolgreiche Steuern eines Panzers und das Einsammeln von feindlichen Flaggen gewinnen.

Wenn wir daher wissenschaftlich über all dies sprechen wollen, sollten wir dann nicht den beobachteten Anstieg des Dopaminspiegels eher mit dem mitreißenden und süchtig machenden Sport der Glücksspiele als mit den Videospielen verbinden, den diese Untersuchungen analysieren und verdammen wollten? Hat sich letztlich nicht Geld selbst als ausreichender Ansporn für viele fragwürdige Handlungen erwiesen? Ich weiß, daß sich meine Gehirnchemie verändert, wenn vor mir ein 100 Dollarschein hängt.

Wenn wir darüber nachzudenken beginnen, sollten wir dann nicht viel eher die Aufputschmitteln gleichende Geschwindigkeit des heutigen Internet, in der Firmen sich einen Wettkampf um den Profit auf diesem neuen Marktplatz liefern, als die Studenten, Senioren und Angestellten verantwortlich machen, die es zur Kommunikation untereinander gebrauchen. Ich kann mich nicht erinnern, dieselben verzweifelten Schuldgefühle beim Lesen meiner EMail empfunden zu haben, bevor ich begann, das Internet zum Versenden meiner Kolumne und meiner Rechnungen einzusetzen.

Der wirkliche Grund, warum wir Kindern Ritalin geben, ist, daß sie dem, was wir ihnen sagen, nicht genug Aufmerksamkeit schenken. Ist das so, weil sie kürzere Aufmerksamkeitsspannen haben oder weil wir, wie die neuen Wirtschaftswissenschaftler erklären, in einer "Aufmerksamkeitsökonomie" leben, in der die einzige knappe Ressource die Fähigkeit der Menschen ist, all den kommerziellen Botschaften Aufmerksamkeit zu schenken, die Firmen an sie richten? Was ist ein besseres Mittel, diese Ressource zu vermehren, als die Bevölkerung unter Drogen zu setzen, deren Aufmerksamkeit man erlangen will?

Vielleicht schiebe ich damit nur den unvermeidlichen Beweis beiseite, daß die Technologien, die mir Spaß machen, irgendwie gefährlich, verdummend oder süchtig machend sind. Doch solange mir niemand den Gehirnschaden zeigen kann, der von Videospielen verursacht wird, die man ohne Geld spielt, werde ich weiterhin meinen Joystick benutzen.

Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer