Moskau: Estnische Gebietsansprüche "unzulässig und provokant"
Der neue Innenminister in Tallinn hält nicht die Grenzziehung von 1944, sondern die von 1920 für gültig
Die russische Außenministeriumssprecherin Maria Sacharowa hat estnische Ansprüche auf die Gebiete Petschur und Johannstadt als "unzulässig und provokant" zurückgewiesen. Anscheinend, so Sacharova, gebe es in Tallin Personen, die "alles Positive, was sich in den bilateralen Beziehungen anbahnt, verderben" wollten.
Damit spielt sie auf den neuen estnischen Innenminister Mart Helme und dessen Eesti Konservatiivne Rahvaerakond (EKRE) an. Obwohl diese EKRE auf europäischer Ebene zu Matteo Salvinis Wahlbündnis AFPN gehört, steht sie Moskau deutlich distanzierter gegenüber als der italienische Innenminister (vgl. Salvini: Russland statt der Türkei in die EU). So distanziert, dass Helme auf einer Pressekonferenz meinte, er habe "natürlich nicht" vor, "mit Russland wegen der Gebiete Petschur und Johannstadt zu kämpfen" (und er glaube auch nicht, dass Russland Estland den Krieg erklären wird) - aber aus seiner Sicht würden diese "5,2 Prozent des estnischen Territoriums" aktuell von der falschen Regierung kontrolliert, die es "nicht zurückgeben oder uns entschädigen und nicht einmal darüber verhandeln" wolle. Deshalb müsse eine "Lösung dieses Problems im Rahmen des Völkerrechts abgewartet" werden.
Russische Gründungen mit wechselvoller Geschichte
Der Grund dafür, dass Helme Anspruch auf die Gebiete erhebt, liegt an unterschiedlichen Grenzziehungen in den Jahren 1920 und 1944: Am 2. Februar 1920 unterzeichnete der damalige sowjetrussische Außenminister Adolf Joffe in Dorpat einen Friedensvertrag, in dem seine Staatsführung anerkannte, dass das unabhängig gewordene Estland diese beiden ehemals zum Zarenreich gehörigen und von ihm kontrollierten Gebiete behalten darf.
Johannstadt, das auf Russisch Ivangorod und auf Estnisch Jaanilinn heißt, war eine russische Gründung, die 1581 bis 1590 und dann noch einmal 1612 bis 1704 von den Schweden beherrscht wurde. Petschur entstand aus einem russisch-orthodoxen Kloster und gehörte im Laufe seiner wechselvollen Geschichte nicht zur zum Zarenreich, zur Sowjetunion, zu Estland und zu Schweden, sondern auch zu Polen.
1940 besetzte die Sowjetunion nicht nur diese beiden Gebiete, sondern ganz Estland, das Hitler Stalin in einem Geheimpakt als Interessensphäre überlassen hatte. Kurz danach griff der deutsche Kanzler trotz dieses Paktes an und hielt Estland von 1941 bis 1944 besetzt. Nachdem die Russen die Wehrmacht und die SS vertrieben, erfolgte zwischen der estnischen und der russischen Sowjetrepublik die Grenzziehung, die noch heute gilt. Ein Abkommen der Außenminister Russlands und Estlands sollte diese Grenzziehung 15 Jahre nach der erneuten Unabhängigkeit Estlands bestätigen, wurde aber vom Riigikogu, dem estnischen Parlament, bislang nicht ratifiziert.
Russische Minderheit
Das hatte auch mit Spannungen zwischen der russischen Föderation und anderen ehemaligen Sowjetrepubliken zu tun, die seitdem deutlich zunahmen. Als die estnische Staatspräsidentin Kersti Kaljulaid im April eine Einladung des russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin annahm, bekam die Politikerin der christdemokratischen Isamaaliit deshalb Kritik aus den anderen baltischen Ländern Lettland und Litauen zu hören.
Dieser Kritik entgegnete sie, es sei "natürlich, mit einem Nachbarn zu sprechen" und "ein bisschen unnatürlich, das erklären zu müssen". Außerdem meinte sie, sie wolle "nicht auf der Speisekarte stehen", sondern "am Tisch sitzen". Vorher hatte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow der estnischen Zeitung Postimees gesagt, die Einladung an sie habe auch zum Ziel, Estlands Staatsführung Zweifel bezüglich der Sicherheit des Landes zu nehmen:
In Estland gibt es bestimmte Besorgnisse in Bezug auf die Situation um die Sicherheit. Aus unserer Sicht gibt es keine Grundlagen dafür. Russland hat mehrmals betont, dass es keine Bedrohungen von unserer Seite für die Nachbarn gibt. (Dmitri Peskow)
Eine Ursache der estnischen Ängste ist, dass etwa ein Viertel der insgesamt 1,3 Millionen Einwohner des Landes zuhause nicht die finno-ugrische Landessprache spricht (die dem Finnischen so ähnlich ist, dass viele Bürger das finnische Fernsehen recht gut verstehen), sondern Russisch. Ihre Vorfahren siedelten sich vor allem in und um die Stadt Narva an, die Johannstadt gegenüberliegt und in der Russischsprecher die klare Mehrheit stellen (vgl. Regierungsbündnis verliert absolute Mehrheit).
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