Mr.Net.Art

Erstmals fand sich in diesem Jahr eine rein weibliche Jury zusammen, um den Mr. Net.Art 98 zu küren

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Wahre Schönheit ist virtuell

Bereits die Ausschreibung des "Mr.Net.Art 98"-Titels sorgte Anfang dieses Jahres für eine Menge Aufregung, vor allem in der alteingesessenen Netzkunstszene. Sicher, es war nicht zu übersehen, daß in der im letzten Jahr erblühten Kunstgattung sich vornehmlich die Herrn der Schöpfung tummeln und ihre Genialität zelebrieren. Daß sie aber so zielsicher an ihrem schwächsten Punkt, nämlich ihrer Eitelkeit erwischt würden, damit hatte keiner gerechnet.

Die Idee dazu stammt von der niederländischen Journalistin Josephine Bosma. Sie macht sich seit einiger Zeit darum verdient, die große Kluft zwischen Netzkultur und den Massenmedien zu überbrücken, indem sie Interviews mit Netzkünstlern sowie Texte über Netzkunst, Netzradio und Cyberfeminismus veröffentlicht. Ihre Arbeit bringt es mit sich, daß sie sich auf diversen Mailinglisten tummelt, wobei ihr besonders die Liste 7-11 (siehe www.vuk.org/7-11/) am Herzen liegt.

Aber selbst auf dieser Liste, die von Netzkünstlern gegründet wurde und sowohl als Kommunikationsmedium als auch als Medium für künstlerisches Schaffen dient, wurde das Fehlen weiblicher Präsenz schmerzlich bewußt, als Ende vergangenen Jahres ein Chor gegründet werden sollte - und man bemerkte, daß die Sopranstimmen fehlten...

Darüber hinaus, bemerkt Josephine Bosma, habe sie das dominante Machotum auf der Liste in all seinen Blüten schon längst geärgert und beim Nachdenken über einen neuen Artikel zur Netzkunst, sei ihr klar geworden, daß es darauf ankäme, die Aufmerksamkeit wieder auf die Kunst selbst zu lenken, weg von den schillernden Persönlickeiten der Künstler. Wie von selbst floß dann die Ausschreibung für den Wettbewerb aus ihrem Keyboard. Was widersprüchlich klingt, sollte sich als wirksame Strategie entpuppen...

Da es erstmal keine Jury gab, hat sie eine erfunden - größtenteils aus real existierenden Personen. Deren Einverständnis holte sie sich später. So kam eine bunte Gruppe von 13 Frauen aus 10 verschiedenen Nationen zusammen, alle selbst Spezialistinnen auf dem Gebiet: Netzkünstlerinnen, Kritikerinnen, Kuratorinnen, Journalistinnen. Alle hatten die Herausforderung gerne angenommen, versprach die Aktion doch, die Gender-Problematik sehr raffiniert, mit viel Humor, aber auch auf eine leicht bedrohliche Weise zum Thema zu machen. Für eine begrenzte Zeit würden sie die Kontrolle übernehmen und durch ihr Richten Gerechtigkeit bringen.

Zitat aus dem ersten Aufruf: "It's Judging that brings justice"

Zusammen veröffentlichten sie dann die Ausschreibung. Es gab drei Preise zu gewinnen: den Titel "Mr.Netart 98" und damit einhergehend eine eigene Domain mit dem Namen www.mr.netart.com, ein zweistündiger Chat mit der berühmt-berüchtigten russischen Netzkünstlerin Olia Lialina, sowie die Verewigung auf Monumenten um die ganze Welt; ganz im Geiste der Heroisierung einzelner Männer, die Großartiges geschaffen haben.

Die Kriterien, die endgültig über den Sieger bestimmen sollten, bezogen sich auf das Erscheinungsbild ihrer Online-Persönlichkeit, ihre Verdienste auf dem Gebiet der Netzkunst im Jahr 1997, ihre persönliche Begründung, warum sie den Titel gerne erhalten würden und was sie damit zu tun gedächten, aber auch ihr äußeres Erscheinunungsbild und ihr sexuelles Können. Ein ausgewogenes Spektrum von Eigenschaften also, das neugierig machte auf die Bewerber.

Angeblich suchte die Jury einen Helden der Netzkunst, einen "hartgesottenen, gutausgehenden Kerl, der es schaffen würde, sich im harten Business der Netzkunst durchzusetzen, einen mit Pioniergeist, der akrobatische Glanzleistungen beim Jonglieren mit den Codes vollbringt und damit der Welt endlich Frieden und Harmonie beschert."

Vor Ablauf der Frist, Ende Januar 1998, hatten sich insgesamt 25 Bewerber auf der von Rachel Baker gestalteten Website eingefunden, die alle davon überzeugt waren, für den Job bzw. den Titel genau richtig zu sein. Die Motivationen der einzelnen Herren waren bestimmt sehr unterschiedlich. Bei den Bewerbern aus dem 7-11-Kreis kann man sehen, daß ihnen der spielerische Hintergrund der ganzen Angelegenheit nicht verborgen blieb. Wie immer brachten sie sich mit dem nötigen Humor ein. Insgesamt bemühten sich alle Kandidaten mit ihren arroganten, liebenswerten und eitlen Präsentationen und Argumentationen sich gegenseitig zu übertreffen.

Da gab es zum Beispiel einen Geschäftsmann, der sich vor allem Vorteile für seine Karriere davon versprach und mit seinem Titel Markenbewußtsein schaffen wollte und als hieb- und stichfesten Beweis für seine sexuelle Leistungsfähigkeit sogar ein Ultraschallvideo seines ungeborenen Kindes einschickte (!), einen Egomanen, der nur über sich selbst als Netzkunst nachdenken kann, einen Frauenhelden, der seine Reputation als Netzkünstler lediglich dazu verwendet Frauen zu verführen oder einen seriösen Journalisten, der sich plötzlich als Klatschreporter der Netzkunstszene outete. Aber es waren auch noch viele andere aufgetaucht, die ihre seriösen Arbeiten vorstellten oder sich mit viel Charme, der Ernsthaftigkeit der Angelegenheit entsprechend, inszenierten.

Es war von vorneherein klar, daß der Entscheidungsfindungsprozeß schwierig werden würde, zumal die ohnehin sehr heterogene Jury lediglich per e-mail und chat kommunizieren konnte. Was sich dann aber entwickelte, übertraf alle Vorstellungen. Nachdem die Kandidaten ausführlich erörtert worden waren, tauchte die ursprüngliche Idee, nämlich die Jury in den Mittelpunkt des Wettbewerbs zu stellen, wieder auf. Dies konnte aber nur gelingen, wenn alle Erwartungen enttäuscht würden.

An diesem Punkt angelangt, entstand die Idee eine Persönlichkeit zu erfinden, und der passende Namen dafür war auch schon da: Hogar, nach einem Serben, der sich gelegentlich in die Jury-Chats verirrt hatte. Hogar sollte ein Amalgam darstellen aus den Bewerbern und der Jury, einen Antihelden, der zwar Gelegeneheit böte zur Identifikation, aber mehr eine Methode war, als ein Ergebnis, ein offener Prozess. So verwunderte das eindeutige Ergebnis der Abstimmung nicht.

Die Jury war zu einer Künstlerinnengruppe geworden, die an einem gemeinsamen Werk bastelte. Aber es machten sich Zweifel breit: Wer sollte diesen Ort wirklich erschaffen und beleben und wie? Das Ergebnis wurde noch einmal verworfen und ein vorher diskutierter Aspekt erlangte schließlich die Mehrheit: ein fertiges Produkt sollte den Persönlichkeits-Wettbewerb gewinnen, der Webstalker.

Ein Kunstwerk, ein Computerprogramm, ein dekonstruktivistischer Browser der Londoner Gruppe i/o/d gewann schließlich den Titel. Die Jury bezeichnete ihn als stürmisch, glamourös, intelligent, dynamisch, komplex und sexy, alles Eigenschaften, die von einem Sieger gefordert worden waren, und man kann von ihm über die Materialität des Netzes lernen. (Telepolis Review des Webstalker)

Wer den editierten Briefwechsel der Jury gelesen hat, wird zustimmen, daß sie es sich nicht einfach gemacht hat. Aus einem Spaß erwuchs eine ernsthafte Auseinandersetzung, die sich schließlich in einem überraschenden und konsequenten Ergebnis niederschlug. In jedem Fall ein Sieg für die Jury!

Cornelia Sollfrank ist Netzkünstlerin und schreibt und entwickelt Projekte in Hamburg.