Münster: Richter nennt Taten "absolut verstörend"

"Mahnmal gegen Kindesmissbrauch", 2002 aufgestellt in Berlin-Köpenick. Foto: Sandra Richter / CC-BY-4.0

Das Landgericht Münster verurteilte vier Männer wegen Sexualstraftaten gegen Kinder zu mehrjährigen Haftstrafen

Seit November 2020 mussten sich vier Männer und die Mutter des Hauptbeschuldigten vor dem Landgericht Münster wegen schwerer sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Verbreitung kinderpornografischen Materials, beziehungsweise wegen Beihilfe verantworten. Die Männer wurden am Dienstag zu Gesamthaftstrafen zwischen zehn und 14 Jahren mit anschließender Sicherheitsverwahrung, die Frau wegen Beihilfe zu fünf Jahren Haft verurteilt. Die am 1. Juli 2021 in Kraft getretene Novellierung des "Gesetzes zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder" hätte 15 Jahre Haft plus anschließende Sicherheitsverwahrung für die männlichen Angeklagten ermöglicht.

Die Taten: unvorstellbar grausam. Die Opfer: ungeschützt. Der Tatort: unscheinbar. Das Urteil: nach aktueller Rechtslage milde. Der Hauptverdächtige: unauffällig. Auf den ersten Blick jedenfalls. Bei genauerer Betrachtung hätte die Gefahr erkannt und die Taten hätten verhindert werden müssen. Ein Männerquartett, bestehend aus dem inzwischen 28-jährigen, einschlägig vorbestraften IT-Experten Adrian V. als Hauptbeschuldigten und den Mitangeklagten Tobias S., Marco S. und Enrico L., wurde beschuldigt, über einen längeren Zeitraum Kindern sexualisierte Folter angetan, die Kinder auch anderen Männer zu diesem Zweck zugeführt, die Taten gefilmt und im Darknet vertrieben zu haben. So wurde ein international agierendes Pädokriminellen-Netzwerk mit bislang 50 identifizierten Beteiligten aufgebaut.

Unter den etwa 30 betroffenen Kindern sind der zehnjährige Ziehsohn des Hauptverdächtigen, der fünfjährige Sohn von Tobias S. sowie der Neffe eines weiteren Beschuldigten. Die Kinder wurden vor den Taten mit K.-O.-Tropfen sediert. Die Kammer des Landgerichts Münster unter Vorsitz von Richter Matthias Pheiler sah die Taten als erwiesen an und verurteilte Adrian V. zu einer Haftstrafe von 14 Jahren, Tobias S. zu zwölf Jahren, Enrico L. und Marco S. zu zehn beziehungsweise elfeinhalb Jahren sowie die Mutter von Adrian V., Carina V., zu fünf Jahren Haft. Die Männer sollen nach Verbüßung ihrer Haftstrafe in Sicherheitsverwahrung. Das bedeutet, dass sie weiterhin in einer Justizvollzugsanstalt (JVA) inhaftiert bleiben, allerdings jährlich geprüft wird, ob von ihnen weiterhin eine Gefahr ausgeht.

Die Taten

Die Polizei war im April 2019 auf das Netzwerk im Darknet gestoßen, die Spur führte laut Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) zunächst zum Arbeitsplatz von Adrian V. Daraufhin wurden sowohl dessen Arbeitsplatz als auch seine Wohnung durchsucht und belastendes Material gefunden, das jedoch verschlüsselt war. Die Entschlüsselung dauerte ein Jahr. Am 14. Mai 2020 wurde Adrian V. festgenommen, am 4. Juni 2020 die drei anderen Beschuldigten sowie Carina V. - auch Sabrina K., die Lebensgefährtin von Adrian V. und Mutter eines der betroffenen Jungen, wurde später verhaftet, im Mai 2021 wurde Klage gegen sie erhoben.

Carina V., von Beruf Erzieherin, hatte ihrem Sohn den Schlüssel zu ihrer Gartenlaube überlassen, laut einem Bericht der Süddeutschen Zeitung (SZ) "Parzelle 30 der Kleingartenanlage Am Bergbusch in Münster-Kinderhaus". Sie soll gewusst haben, was sich darin abspielte. Auch Sabrina K., die Mutter eines der betroffenen Jungen und Lebensgefährtin von Adrian V., soll von dem Martyrium ihres Sohnes und der anderen Kinder gewusst haben. Beiden Frauen wird "Beihilfe zu schwerem sexuellen Missbrauch" vorgeworfen, Sabrina K. soll Medienberichten zufolge ihren Sohn selbst zu sexuellen Handlungen gezwungen haben. Gegen sie läuft ein gesondertes Verfahren.

Im weiteren Verlauf wurde die "Ermittlungskommission Rose", kurz EK Rose, gegründet und die Beamtinnen und Beamten stellten 4 Petabyte Daten sicher. Das entspricht einem 8.000 m hohen Turm aus CDs. Das Landgericht Münster befasste sich in dem Prozess mit 1.400 IT-Asservaten, 70 Zeugen wurden geladen, sieben Sachverständige bemüht. Zahlreiche Bilder und Videos wurden im Gerichtssaal gesichtet, die Akte umfasst 20.000 Seiten. Aus Gründen des Opferschutzes fand der Prozess größtenteils unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Die Opfer sollen nahezu alle aus dem nahen Umfeld der Täter kommen. Der Tatort war die Gartenlaube, allerdings auch Autos von Tatbeteiligten, möglicherweise deren Wohnungen oder auch Unterkünfte im Rahmen eines "Urlaubs".

Verbrechen mit Vorgeschichte

Der heute 28-jährige Hauptbeschuldigte Adrian V. war als IT-Experte in Lohn und Brot, in einer festen Beziehung zu Sabrina K. und kümmerte sich nach außen hin rührend um deren Sohn, betreute ihn, wenn sie nicht da war, verreiste sogar mit ihm, hatte in gutes Verhältnis zu seiner Mutter Carina V., einer Erzieherin, die ihrem Sohn den Schlüssel zu ihrer Gartenlaube überließ, und einen festen Freundeskreis. Ein Traum jeder Schwiegermutter. Allerdings nur auf den ersten Blick, denn hinter dieser bürgerlichen Fassade brodelte es gewaltig - und das hätte sowohl seiner Mutter, als auch Sabrina K. und auch dem zuständigen Jugendamt in Münster klar sein müssen.

Schwiegermamas Liebling war nämlich bereits zwei Mal, 2016 und 2017, wegen "Besitzes und Verbreitung von Kinderpornografie" zu jeweils zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt worden. Das erste Mal im Rahmen eines Strafverfahrens vor einem Jugendgericht. Warum sogar eine zweite Haftstrafe zur Bewährung ausgesetzt, obwohl das Urteil während der Bewährungszeit gefällt wurde, wird wohl auf ewig das Geheimnis der zuständigen Richter bleiben. Vermutlich, weil die Taten selbst lange vor den Prozessen stattfanden. Möglicherweise jedoch wären die späteren Taten verhindert worden, wenn damals genauer hingeschaut und der Täter aus dem Verkehr gezogen worden wäre.

Laut RND verbreitete Adrian V. bereits 2010, damals 17 Jahre alt, kinderpornografisches Material im Internet. 2013 lernte er Sabrina K. kennen, deren Sohn war damals drei Jahre alt. 2014 verbreitete Adrian V. erneut kinderpornografisches Material im Internet. 2016 wurde er wegen der Straftaten von 2010 von einem Jugendschöffengericht zu einer Haftstrafe von zwei Jahren auf Bewährung verurteilt. 2017 wegen des späteren Vergehens von einer anderen Kammer erneut zu zwei Jahren Haft auf Bewährung.

Das Jugendamt der Stadt Münster bekam bereits 2015 Kenntnis von den pädokriminellen Straftaten, nahm Kontakt zu dem Täter sowie dessen Partnerin und deren Sohn auf, eine "sogenannte Clearingstelle, in der solche Fälle anonymisiert von Polizisten, Psychologen und Pädagogen bewertet werden", wurde eingerichtet, doch da das Paar nicht offiziell zusammenlebte, entschied das Expertengremium, "dass keine familiengerichtlichen Maßnahmen notwendig" seien. So wurde der Junge dem Hauptverdächtigen ausgeliefert und den Taten ungeschützt ausgesetzt. Wenn nicht einmal die zuständigen Behörden, geschweige denn die Mütter die Kinder schützen, sondern womöglich selbst zur Täterin werden, dann haben sie keinen Schutz.

Die neue Rechtslage

Am 27. Oktober 2020 brachten die Fraktionen von CDU/CSU und der SPD im Bundestag den "Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder" in den Bundestag ein. Damit sollte zunächst einmal der unsägliche Begriff "sexueller Missbrauch von Kindern" durch "sexualisierte Gewalt gegen Kinder" ersetzt werden. Es gibt keinen wie auch immer gearteten statthaften sexuellen Gebrauch von Kindern - auch nicht von Erwachsenen - ergo kann es auch keinen "Missbrauch" geben. Es ist Gewalt, die auf bestimmte Art und Weise ausgeübt wird. Was die Jungen aus dem Münsteraner Fall erleben mussten, ist Folter, sexualisierte Folter.

Außerdem sollte das Strafmaß klarer und auch höher werden. Dem Entwurf zufolge sollte auch Besitz und Verbreitung kinderpornografischen Materials grundsätzlich zu einer Haftstrafe führen, schwere sexualisierte Gewalt, beispielsweise in Form von gemeinschaftlich begangenen Straftaten, soll mit einer Haftstrafe "nicht unter fünf Jahren" geahndet werden. Bislang wurde der sogenannte "einfache sexuelle Missbrauch von Kindern" als Vergehen eingestuft, Ziel der Gesetzesvorlage war es, diese Straftaten als Verbrechen einzustufen und entsprechend zu bestrafen, mit einer Haftstrafe von mindestens einem Jahr, bis zur Höchststrafe von 15 Jahren.

Der Entwurf wurde 21. März 2021 im Bundestag beschlossen, passierte am 7. Mai 2021 den Bundesrat, wurde am 16. Juni von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) unterschrieben und ist seit dem 1. Juli 2021 weitestgehend in Kraft. Der Münsteraner Prozess lief allerdings zu diesem Zeitpunkt schon und neigte sich seinem Ende zu.

Der Hauptangeklagte grinste während der Urteilsverkündung

In der vergangenen Woche hielten sowohl Staatsanwaltschaft als auch die Verteidigung der Beschuldigten ihre Plädoyers. Die Staatsanwaltschaft forderte im Wesentlichen die später verhängten Strafen. Der Anwalt von Carina V. beantragte Freispruch für seine Mandantin und die Anwälte der drei Mitangeklagten niedrigere Haftstrafen ohne anschließende Sicherheitsverwahrung. Die Verteidiger des Hauptangeklagten haben sich laut einem WDR-Bericht in ihren Plädoyers gegen eine Sicherungsverwahrung für ihren Mandanten ausgesprochen:

Vor dem Landgericht Münster forderten sie am Dienstag stattdessen eine "angemessen milde" Strafe für den heute 28 Jahre alten IT-Techniker Adrian V. aus Münster. Die Verteidiger meinen, ihrem Mandanten seien die Taten quasi leicht gemacht worden, weil das Jugendamt schon seit Jahren keinen Kontakt zu der Familie von Adrian V. hatte, obwohl dieser ja schon wegen Kinderpornographie vorbestraft war. Zudem müsse man ihm auch die Belastung zugutehalten, die er durch die intensive Medienberichterstattung erlitten habe.

Der Hauptangeklagte äußerte sich während des gesamten Prozesses nicht, zwei der Mitangeklagten räumten die Taten ein und entschuldigten sich bei den Opfern.

Wie der NDR berichtete, soll Adrian V. das Urteil "grinsend" entgegengenommen und der Vorsitzende Richter Pheiler gesagt haben, das sei ihm in seiner gesamten Berufslaufbahn noch nicht untergekommen.

Der Süddeutschen Zeitung zufolge beschrieb der in seiner Urteilsbegründung die zum Teil schweren Missbrauchstaten, verzichtete aber zum Schutz der Opfer auf Details der Vergewaltigungen:

Das übersteigt alles, was dieser Kammer bislang vorgelegt wurde", sagte Pheiler, ein erfahrener Richter. Die Taten seien "absolut verstörend", sie seien "gewohnheitsmäßig und mitleidslos" erfolgt.

Allerdings wäre mit diesem Urteil nach aktueller Rechtslage das mögliche Strafmaß nicht ausgeschöpft. Angesichts der festgestellten Schwere der Taten, die vor der Gesetzesänderung verübt wurden, hätte es anders ausfallen können. Alle vier Angeklagten wurden zu teilweise deutlich niedrigeren Haftstrafen als inzwischen möglich verurteilt. Zwar wurde für alle vier Männer die anschließende Sicherheitsverwahrung angeordnet - die kann aber aufgehoben werden. Das Beispiel Adrian V. zeigt, wie schnell Experten bereit sind, zum Wohle der Männer zu urteilen. Hätte die Kammer für alle Angeklagten die seit der Gesetzesnovelle mögliche Höchststrafe verhängen können, dann wären sie für 15 Jahre aus dem Verkehr gezogen. Die Anordnung der anschließenden Sicherheitsverwahrung wäre trotzdem möglich gewesen.

Einer der Männer tat seinem Ziehsohn sexualisierte Folter an, ein anderer seinem Neffen und ein dritter seinem biologischen Sohn. Das Netzwerk, das die Beschuldigten aufgebaut haben, geht weit über die Grenzen Münsters, ja sogar Deutschlands hinaus, die Kinder wurden über lange Zeit Opfer und der Hauptbeschuldigte fand das alles offenbar amüsant.