Mützenich unter Lindner-Beschuss: Gefährden traditionelle SPD-Positionen die Ampel-Regierung?

Porträt Rolf Mützenich

Rolf Mützenich. Foto: photocosmos1 /shutterstock

SPD-Fraktionschef bezieht FDP-Prügel. Doch hat ein sehr bekannter Genosse schon einmal deutlicher vor der Ost-West-Eskalation gewarnt. Eine kritische Erinnerungshilfe.

"Meine größte Sorge hinsichtlich der Stabilität der Bundesregierung bis zur Bundestagswahl ist inzwischen die SPD-Bundestagsfraktion." Der Satz entfuhr Bundesfinanzminister Christian Lindner in seinem Interview mit dem Handelsblatt. Diese Gefahr für die Regierung hat für den amtierenden Finanzminister einen Namen – den des SPD-Fraktionschefs Rolf Mützenich.

FDP: Schulden und Vermögenssteuer gleichermaßen indiskutabel

Hintergrund von Lindners bemerkenswerter Äußerung ist der Haushaltsstreit zwischen der FDP und der SPD-Bundestagsfraktion. Diese hatte während der Haushaltsverhandlungen vehement ein Aussetzen der Schuldenbremse gefordert, um mehr Spielraum für Investitionen zu schaffen. Dies stieß auf starken Widerstand bei der FDP. Und damit war der Streit vom Zaun gebrochen.

Im Interview mit der Wirtschaftszeitung machte Lindner dann deutlich, dass er weiterhin für eine stabilitätsorientierte Finanzpolitik eintrete und mehr privates Kapital für Innovationen mobilisieren wolle. "Mehr Schulden und höhere Steuern können nicht der Weg sein", sagte er. Die SPD hingegen spreche über eine Vermögensteuer, die Grünen über höhere Schulden. Beides offenbar gleichermaßen indiskutabel.

Einen Haushalt mit einem Defizit von 17 Milliarden Euro werde er "keinesfalls akzeptieren", bekräftigte der Finanzminister in besagtem Zwiegespräch. Vertretbar sei eine geplante Minderausgabe von bis zu neun Milliarden Euro, alles darüber hinaus werfe nicht zuletzt auch verfassungsrechtliche Fragen auf. Und auf solche dürfte die Ampel-Regierung diesmal gerne verzichten wollen.

Zu einer möglichen Neuauflage der Ampel-Koalition nach der Bundestagswahl 2025 wollte sich Lindner derweil nicht äußern. "Zu Koalitionsoptionen äußern wir uns erst im kommenden Jahr. Jetzt steht noch Arbeit an", so die tatkräftig anmutende Formulierung des Finanzministers.

Damit war es mit der Kritik am Koalitionspartner aber noch nicht vorbei.

"Grundsatzentscheidungen infrage gestellt"

So warf Lindner dem SPD-Fraktionschef Mützenich vor, "in den Bereichen Sicherheits- und Haushaltspolitik sowie bei den Anforderungen an das Bürgergeld die Grundsatzentscheidungen der Bundesregierung infrage zu stellen". Das ist interessant, denn mit dem Punkt "Sicherheitspolitik" spielte Lindner erkennbar auf die vergangenen Äußerungen des SPD-Fraktionschefs zur Rolle der Bundesrepublik im Ukraine-Krieg an.

Dabei kann man argumentieren, dass Mützenich mit seinen Einwürfen klassische Positionen der Sozialdemokratie vertreten hatte. Das scheint vor allem die Partei des Bundeskanzlers Olaf Scholz vor ein Dilemma zu stellen.

Entweder man verbietet dem Fraktionschef mit dem Verweis auf eine "Koalitionsdisziplin" den Mund oder man verrät die ureigenen (oder nur uralten?) Ideale, unter deren lautesten Vertretern der Bundeskanzler selbst einmal zu finden war.

Und, eine Information zum vermeintlichen Prügelknaben, die die ganze Angelegenheit dabei noch verworrener macht: Mützenich selbst hatte im März Konsequenzen gegen Parteigenossen gefordert, die der "Koalitionslinie" zur Ablehnung von Taurus-Lieferungen widersprechen.

Aber rekapitulieren wir zunächst einmal Mützenichs "sicherheitspolitische" Vergehen.

Mützenichs erster Streich: "Einfrieren des Konflikts"

Der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion hatte im März mit seiner Forderung für Aufsehen gesorgt, den Krieg in der Ukraine "einzufrieren". Es sei notwendig, argumentierte Mützenich, "den Krieg zu stoppen und Verhandlungen zu beginnen". Mit dieser Äußerung versetzte er seine Kollegen im politischen Berlin unter darüber hinaus in hellen Aufruhr.

Speziell der Koalitionspartner FDP und die Grünen reagierten empört. FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai warf Mützenich vor, "Putins Aggression zu verharmlosen", Agnieszka Brugger (Grüne) nannte Mützenichs Vorstoß "realitätsfern und gefährlich".

Der medienaffine Militärexperte Carlo Masala ergänzte, dass ein Einfrieren des Krieges "die russischen Truppen in ihrer jetzigen Position festigen" und zu einer "dauerhaften Teilung der Ukraine" führen könnte. In die gleiche Kerbe schlug der ukrainische Botschafter in Deutschland, Oleksii Makeiev, als er betonte, dass "Frieden nur mit Waffen geschützt werden" könne.

Den SPD-Fraktionschef schien all das wenig zu beeindrucken. Er blieb bei seiner Forderung.

Mützenichs zweiter Streich

Erst vor Kurzem wagte sich Mützenich erneut mit einer Konsens-gefährdenden Äußerung in die Öffentlichkeit. Vor dem Hintergrund der auf dem Nato-Gipfel in Washington beschlossenen Stationierung von Langstreckenraketen in Deutschland ab 2026 warnte Mützenich vor der "Gefahr einer unbeabsichtigten militärischen Eskalation".

Mit seinem Urteil, dass eine solche Stationierung durchaus eine "Kaskade" von Schlägen und Gegenschlägen in Gang setzen könnte, wird der Fraktionschef diesmal allerdings – auch von geostrategisch beschlagener Seite – gestützt. Und schon die unmittelbar darauffolgenden Ereignisse schienen ihm recht zu geben.

Denn Russland reagierte auf die westlichen Pläne unverzüglich mit einer taktischen Atomwaffenübung, laut dem russischen Verteidigungsministerium als "Antwort auf die westliche Provokation". Der 2019 von den USA aufgekündigte und von Russland unter anderem mit Verweis auf das von den USA forcierte europäische Raketenabwehrprogramm gebrochene Atomwaffensperrvertrag (INF-Vertrag) ist nur noch eine Erinnerung.

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Ganz verblasst sind die Erinnerungen in Deutschland aber nicht, wenn man der internationalen Presse Glauben schenkt. Die berichtete nämlich – in Gestalt der US-Nachrichtenagentur Reuters – über die Raketenstationierung als "Echos des Kalten Krieges", die allerdings in unserem Zeitalter nur von den extremen Randparteien AfD und Linke vernommen werden können.

Dafür, dass Erinnerungen verblassen können, liefert der Bundeskanzler persönlich wohl das beste Beispiel. Nicht im Hinblick auf seine mutmaßlichen Verwicklungen im größten Steuerbetrugsfall der Bundesrepublik, sondern in Bezug auf seine ältere Vergangenheit. Als Extremist?

Bemerkenswerterweise hat gerade die – zumindest unter Ex-Chef Joffe – traditionell eher Nato-freundliche Zeit den Zusammenhang zwischen Langstreckenraketen, Kaltem Krieg, Nato-Doppelbeschluss und vergesslichem Kanzler in einer Textpassage Anfang Juli treffend zusammengefasst:

Der russische Krieg hat einen Mentalitätswandel in Deutschland bewirkt. Die Sicherheit in Europa kann nicht zusammen mit Russland organisiert werden, sondern auf absehbare Zeit nur durch dessen Eindämmung. Wie im Kalten Krieg, nur mit einem aggressiveren, unberechenbareren Gegner als der Sowjetunion in ihrer Endphase.

Kaum jemand verkörpert diese Entwicklung so sehr wie der Mann, der den jetzigen Nachrüstungsbeschluss mit verhandelt hat. 1983 demonstrierten 500.000 Menschen im Bonner Hofgarten gegen die Stationierung US-amerikanischer Raketen. Im Organisationskomitee saß damals ein aufstrebender junger Funktionär vom äußersten linken Flügel der Jusos namens Olaf Scholz.

Die Zeit, "Olaf Scholz entsichert seinen inneren Helmut Schmidt",

Dem wäre nichts mehr hinzuzufügen, gäbe es nicht eine weitere Passage aus dem Handelsblatt vom August 2020, die zeigt, wie die (extremen? extremistischen?) Ansichten des frühen Bundeskanzlers die seines späteren Fraktionsvorsitzenden weit in den Schatten stellen.

Seine Weltanschauung brachte Scholz in Artikeln in der "Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft" zu Papier. Darin schimpfte er über die "aggressiv-imperialistische Nato", die Bundesrepublik als "europäische Hochburg des Großkapitals" und über die sozialliberale Koalition, die den "nackten Machterhalt über jede Form der inhaltlichen Auseinandersetzung" stelle.

Handelsblatt, 21. August 2020

Vielleicht waren es aber auch nicht alle Überzeugungen wert, über Bord geworfen zu werden.