"Multikulti" bis "Querdenken": Ist unsere Gesellschaft polarisiert?

Seite 4: Studie: "Die andere deutsche Teilung"

Die umfangreichste und ergiebigste neuere Studie zu Grundhaltungen und Wertorientierung der Deutschen ist die Studie von "More in Common e. V. Deutschland": "Die andere deutsche Teilung: Zustand und Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft" (2019).

Nach dieser Studie sind 52 Prozent der Befragten unzufrieden, 48 Prozent zufrieden mit der Demokratie in Deutschland. 70 Prozent meinen, Deutschland bewege sich in die falsche Richtung. Hier ist in kurzer Zeit ein Sinken der positiven Bewertungen eingetreten. In der Bertelsmann-Studie von 2017 hatte die Aussage: "Alles in allem bin ich mit der Demokratie, wie sie in Deutschland besteht, zufrieden" noch einen Zustimmungswert von 0,6 (von eins) erreicht. Die Aussage "Die Demokratie ist die beste Staatsform" fand einen Wert von 0,5.

Polarisierung oder Segmentierung?

Ein differenzierter Blick auf das Gesamtergebnis zeigt aber große Unterschiede in verschiedenen Bevölkerungsteilen. Die Studie geht weniger nach sozioökonomischen, demografischen oder parteipolitischen Kategorien vor, sondern eher nach sozialpsychologischen Gesichtspunkten. Sie identifiziert in der deutschen Gesellschaft sechs Typen mit unterschiedlichem Wertfundament und Blick auf die Gesellschaft:

Die Offenen: Menschen, denen Selbstentfaltung, Weltoffenheit und kritisches Denken und Dialog wichtig ist. Demokratie hat einen hohen Stellenwert. Dabei bejahen sie den gesellschaftlichen Wandel. Sie sind eher linksorientiert und europäisch ausgerichtet. Sie gehören überwiegend zu den Jüngeren. - 16 Prozent der Bevölkerung.

Die Involvierten: Menschen mit Bürgersinn, die gesellschaftliches Miteinander schätzen und bereit sind gesellschaftliche Errungenschaften zu verteidigen. Sie sind eher zufrieden mit dem Funktionieren der deutschen Demokratie und haben zu 51 Prozent Vertrauen in Politiker auf Bundesebene. Sie fühlen sich zugleich deutsch und europäisch. In diesem Segment dominieren Ältere: 17 Prozent.

Die Etablierten: Menschen, denen Verlässlichkeit und gesellschaftlicher Frieden wichtig ist. Sie sind stolz auf ihr Land und am zufriedensten mit dem Status quo. Politisch stehen sie in der Mitte, ideologisch sind sie wertkonservativ und oft religiös ausgerichtet. Unter ihnen finden sich eher Männer und Ältere: 17 Prozent.

Die Pragmatischen: Menschen, denen Erfolg und privates Fortkommen wichtig ist, die sich weniger für Politik interessieren und ihren Mitmenschen nicht blind vertrauen. Ihr Verhältnis zum politischen System ist nutzenorientiert, das Verhältnis zur Gesellschaft und ihren Normen vage oder distanziert. Sie sind oft nicht sozial eingebunden. Sie sind mit Abstand die Jüngsten, und unter ihnen sind überdurchschnittlich viele mit Migrationshintergrund: 16 Prozent.

Die Enttäuschten: Menschen, denen das Gefühl von Gemeinschaft verloren gegangen ist und die sich Wertschätzung und Gerechtigkeit wünschen. Die Demokratie- und Politikzufriedenheit ist sehr gering. Man denkt eher national als europäisch und fühlt sich vom gesellschaftlichen Wandel bedroht: 14 Prozent.

Die Wütenden: Menschen, die Kontrolle, nationale Ordnung und häufiger autoritäre Führung mit (plebiszitären Elementen) schätzen; sie sind wütend aufs System, betrachten Medien, Institutionen und Politiker als abgehobene "Elite", die sich mehr um Minderheiten und Neuankömmlinge kümmere als um das "eigenen Volk".

Sie fühlen sich fremd in der Gesellschaft, interessieren sich aber für Politik, haben klare politische Ansichten, die nach rechts tendieren und kompromisslos vertreten werden. Das Weltbild ist geschlossen. Gegenüber raschem gesellschaftlichem Wandel plädieren sie für ein traditionsbewusstes Deutschland, wobei sie konservativ-autoritäre Traditionen bevorzugen. Sie zeichnen sich durch Abwertung bestimmter Minderheiten und Ablehnung des Islam als "kulturfremd" aus: 19 Prozent.

Keine dieser Gruppen hat eine Mehrheit. Mit der Studie der Robert-Bosch-Stiftung sieht diese Untersuchung eine einigermaßen gleiche Verteilung der unterschiedlichen Einstellungstypen im Osten wie im Westen Deutschlands. Die "Offenen" gibt es etwas seltener und die "Wütenden" etwas häufiger im Osten.

Die Autoren der Studie sprechen von einer Dreiteilung der Gesellschaft: den Stabilisatoren (Involvierte, Etablierte) - das sind 34 Prozent, den Extrem-Polen (Offene, Wütende) - 35 Prozent und dem "unsichtbaren Drittel" (Pragmatische, Enttäuschte) - 30 Prozent. Diese Einteilung erscheint nicht unbedingt schlüssig.

Man könnte die kompromissbereiten "Offenen" und Teile der "Pragmatischen" zu den gesellschaftsstabilisierenden Bevölkerungsteilen dazu rechnen und käme dann mit den Involvierten und Etablierten auf einen Wert von circa 60 Prozent.

Dies würde sich anderen Befragungen annähern, die eine grundsätzlich positive Einstellung zur "Vielfalts-Gesellschaft", aber mit Ambivalenzen annehmen. Die Studie berücksichtigt nicht fließende Übergänge zu den einzelnen Positionen, die anzunehmen sind.

Betrachtet man nur die Pole, könnte man von einer Polarisierung der Gesellschaft reden. Dies verkennt aber, dass es ein breites Mittelfeld gibt, wie immer das man auch bezeichnet. Man könnte von den Befunden her eher von einer Segmentierung oder Fraktionierung der deutschen Gesellschaft sprechen. Das trifft aber auch nur teilweise zu, denn: "70 Prozent der Menschen wünschen sich, dass wir trotz unserer Unterschiede zusammenfinden", befürworten also Zusammenhalt und gesellschaftliche Zusammenarbeit.

Die Aussage: "Im Grunde haben die allermeisten Menschen gute Absichten (trotz unterschiedlichen Überzeugungen, Religionen, Kulturen)" bejahen 69 Prozent. Dies trifft sich wieder mit der Studie der Robert-Bosch-Stiftung, die eine starke Bejahung der gesellschaftlichen Vielfalt feststellte. Gesellschaftliche "Spalter" sind also von der Mehrheit nicht erwünscht.

Die große Mehrheit beklagt, dass die "gesellschaftliche Debatte" in Deutschland immer schwieriger und hasserfüllter werde oder dass "selbst berechtigte politische Meinungen nicht mehr öffentlich geäußert werden, ohne dass man dafür angegriffen wird." (Letzteres wird besonders stark von den "Etablierten", "Enttäuschten" und "Wütenden" vertreten.)

Zumindest an den "Polen" tut sich hier ein Widerspruch auf: Offenheit und Kompromissbereitschaft auf der einen Seite steht gegen Beharren auf der eigenen Meinung und Durchsetzungsbestreben auf der anderen Seite. Diese Divergenzen sind wohl ein Grund dafür, dass trotz des Wunsches nach Zusammenhalt eine große Skepsis darüber herrscht, ob der Zusammenhalt (noch) einmal hergestellt werden könnte (53 Prozent).

Der Wunsch nach Kohärenz zeigt, dass eine starke Mehrheit zwar die Defizite in der Gesellschaft sieht, aber nicht grundsätzlich gesellschafts- oder systemfeindlich ist, auch nicht nur ichbezogen agieren möchte, sondern auf Veränderungen hofft. Frust mit Demokratie und Politik bedeutet nicht automatisch Abwendung.

Politik enttäuscht

Nach Ansicht der meisten Befragten kümmert sich die Politik nicht ausreichend um die - unterschiedlich gesehenen - "wichtigen Probleme" (wie Digitalisierung, Alterssicherung, bezahlbarer Wohnraum, Klimaschutz, Bekämpfung von Rechtsextremismus, Sicherheit, Begrenzung der Zuwanderung u.a.) (76 Prozent); man meint, Politiker interessierten sich nicht dafür, was die Leute denken (82 Prozent) und man bekäme zu wenig vom wirtschaftlichen Erfolg ab (65 Prozent).

Die Autoren kommentieren das so: "dass sich Deutschland für viele Bürgerinnen und Bürger wie ein Land im Wartezustand anfühlt - was dessen Zukunftsfähigkeit gefährdet." Andererseits sind 53 Prozent überzeugt, dass Bürger durch ihre Entscheidungen und Handlungen die Gesellschaft verändern können. Was Bürger vom Staat und der Politik erwarten, ist Abhilfe bei Missständen und "Gerechtigkeit". Hier steht vor allem die soziale Versorgungssicherheit im Vordergrund (71 Prozent). Gerechtigkeitsfragen beschäftigen die Gesellschaft mehr als etwa die Themen Migration oder Klima.

Verlieren Medien wirklich Vertrauen?

Demokratie lebt von Debatte. Debatte lebt von Austausch und Information. Dabei zeichnet sich nach dieser Studie ein großer Bruch in den Vermittlungskanälen ab. In der Rangliste, wie Informationen vermittelt und Meinungen gebildet werden, steht das persönliche Umfeld an erster Stelle (84 Prozent). Dann folgen "Experten" (68 Prozent). "Journalisten konkurrieren als klassischste Informationsquelle mit 31 Prozent unmittelbar mit persönlichen Social-Media-Kontakten (32 Prozent) … abgeschlagen rangieren Vertreter der Bundesregierung" (20 Prozent)." Die Autoren kommentieren das so:

Damit drohen mittelfristig - mit Ausnahme der Experten - allgemeinverbindliche und übergreifende Informationsquellen wegzubrechen … Dies erschwert womöglich die Bildung eines gesamtgesellschaftlichen Diskursraums, der auf gemeinsamen Maßstäben und geteilten Grundannahmen beruht.