"Multikulti" bis "Querdenken": Ist unsere Gesellschaft polarisiert?

Seite 7: Studie: "Verschwörung in der Krise"

Genaueres über die Verbreitung des Glaubens an "Verschwörungstheorien" erfährt man aus einer Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung: Jochen Rose, "Verschwörung in der Krise" (2020) (2019/20 wurden 3250 Personen telefonisch befragt).

Unter den während der Krise Befragten meinten fünf Prozent, dass "das Corona-Virus ein Vorwand sei, um die Menschen zu unterdrücken", neun Prozent halten das für wahrscheinlich. Laut einer etwas später durchgeführten Umfrage des ARD-Politikmagazins Kontraste mit einer ähnlichen (aber undifferenzierten) Fragestellung sind es 17 Prozent, die das so sehen.

Besonders verbreitet ist dieser Glaube unter AfD-Anhängern. Je höher der (formale) Bildungsabschluss ist, desto geringer ist die Akzeptanz. Die Neigung an diverse allgemeine Verschwörungstheorien zu glauben oder sie für wahrscheinlich zu halten, ist wesentlich höher (24 Prozent!) - hat sich aber den Befragungsantworten nach während der Krise nicht verstärkt, sondern etwas verringert.

Unter denen, die das Corona-Virus für einen Vorwand halten, besteht eine hohe Korrelation zum Misstrauen gegenüber politischen Nachrichten in den öffentlich-rechtlichen Medien und einer Bevorzugung des Bezugs politischer Nachrichten in sozialen Medien.

Ob man von einer "zunehmenden Polarisierung" in der Bewertung der etablierten Medien reden kann, hängt stark von der Sichtweise auf die Daten ab. Zusätzliche Analysen der Mainzer Forscher ergaben, dass negative Einstellungen mit wirtschaftlicher Zukunftsangst einhergehen und mit einer Präferenz für politische Ränder, alternative Online-Nachrichten und Nutzerkommentare.

Wie es zu den Diskrepanzen zwischen der "More in Common"- Untersuchung in Hinsicht auf die Bewertung "journalistischer Medien" und beiden Studien der Forschergruppe aus Mainz/ Düsseldorf kommt, lasse ich offen. Man denkt erst, es könnte sich bei den Mainzer/Düsseldorfer-Studien um "ARD-Werbung" handeln. (Das legt sich bei der Nähe der Fachzeitschrift "Media Perspektiven" zur ARD, in der die Studie veröffentlicht wurde, nahe).

Faktisch ist das bei den Ergebnissen so – was aber nicht heißt, dass die Befragungen nicht offen waren. Dem steht die Aussage der Autoren entgegen: "Die Studie ist wissenschaftlich unabhängig, finanziert aus Forschungsmitteln der beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler".

Gegen Online-Befragungen gibt es kritische Einwände, so etwa Zweifel an der Repräsentativität. Ein Grund für die Diskrepanz könnte auch sein, dass es im Verlaufe der Pandemie zu einem Einstellungswandel kam. Wenn die Studien verlässlich sind, wären sie eher ein Beleg gegen die These einer starken Polarisierung der deutschen Gesellschaft als dafür.

Gibt es ein Zugehörigkeitsgefühl zu Deutschland?

Es gibt außer der Tatsache, dass man durch Herkunft deutscher Staatsbürger ist, durchaus identitätsstiftende und verbindende Merkmale, worauf die "More-in-Common-Studie" hinweist. Man ist vor allem stolz auf vielfache ehrenamtliche Tätigkeit (83 Prozent), das Grundgesetz (77 Prozent), die wirtschaftliche Leistung (77 Prozent), das kulturelle Erbe (76 Prozent) die Wiedervereinigung (74 Prozent) und die Geschlechtergleichheit (71 Prozent); der Einsatz für die europäische Einigung veranlasst 65 Prozent zu Stolzgefühlen, die Aufnahme von Flüchtlingen 46 Prozent.

Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft wird nicht nur an die deutsche Herkunft gebunden, sondern als "erwerbbar" betrachtet, wobei man einhellig "Integrationsbereitschaft (u.a. Sprachkenntnisse), Normkonformität (Achtung deutscher Gesetze, Werte und Traditionen) und Leistungsbereitschaft" erwartet.

Auch diese Studie zeigt, dass die deutsche Gesellschaft komplex ist und es von "Pol" zu "Pol" beträchtliche Divergenzen gibt. Es stehen sich aber nicht wie in den USA große, durch tiefe Gräben getrennte Blöcke gegenüber, die sich in Schichten, Ethnien, Regionen, zwei Parteien und Medien manifestieren. (Zumindest stellt sich das von außen so dar, wobei bei diesem Blick möglicherweise eine kompromissbereite, aber "ermüdete Mitte" übersehen wird, die "More in Common USA" in einer Untersuchung "Hidden Tribes" feststellte.)

Was sich in Deutschland abzeichnet, ist eine Vertrauenskrise zwischen großen Teilen der Bevölkerung und den politischen Institutionen sowie dem "Establishment" in Politik, Medien und Wirtschaft, wobei es offenbar 2020 eine gegenläufige Tendenz gab. Diese Dissonanz erscheint eher als Herausforderung denn als unlösbare Krise und Spaltung. Die Autoren der "More in Common"-Studie bringen das in ihren Schlussworten zum Ausdruck:

Ziel muss eine Demokratie bleiben, die für alle Menschen da ist und in der jede und jeder eine echte Chance hat, zu Wort zu kommen und gehört zu werden. Diesbezüglich Vertrauen zurückzugewinnen, ist eine massive Gestaltungsaufgabe für politische Verantwortungsträger und gesellschaftliche Institutionen. Dies gilt auch für die Medien, deren Funktion als objektive Berichterstatter derzeit von sehr vielen Menschen in Deutschland ernsthaft in Zweifel gezogen wird.

Die Autoren "laden dazu ein, sich von manch vorschneller Annahme über die großen Trennlinien in unserem Land zu verabschieden." Sie meinen, es bestünden Chancen zu mehr gesellschaftlichem Zusammenhalt durch Bemühungen um eine "offene Gesprächsatmosphäre", den "Austausch mit Andersdenkenden" und eine stärkere Partizipation vernachlässigter Bevölkerungsteile am politisch-gesellschaftlichen Geschehen.

Gegen die Validität statistischer Befunde bei Meinungsumfragen lässt sich einiges einwenden. Trotz möglicher Fehlerquellen bilden sie aber bei professioneller Durchführung der Befragungen Einstellungstendenzen ab, die der Realität entsprechen. Eines vom Wichtigsten, was man aus den Studien lernen kann, ist, dass die subjektive Wahrnehmung der Verbreitung der eigenen Position und der anderer täuschen kann. Eine "Objektivierung" durch die Untersuchungen lässt die "Vielfalt" im Meinungsspektrum der deutschen Gesellschaft in den Blick kommen, was man auch positiv sehen kann.

Angemerkt sei hier, dass Polarisierungstendenzen in einer demokratischen nicht unbedingt negativ zu bewerten sind. "Weder in seinen werte- noch in seinen handlungsbezogenen Dimensionen ist politische Polarisierung der Demokratie grundsätzlich wesensfremd." (siehe Ludger Helms, Polarisierung in der Demokratie: Formen und Wirkungen).

Polarisierungen fordern zur "Debatte" und zu Korrekturen heraus. Sofern polarisierende Positionen nicht den grundlegenden Ideen und Kommunikationsformen einer liberalen Demokratie verpflichtet sind, sind sie allerdings "hochproblematisch und eindeutig schädlich für die Demokratie", so Helms.

Dr. theol. Wolfram Janzen, Studium der Theologie und Germanistik, vor seiner Zurruhesetzung tätig als Religionspädagoge in Schulen, Hochschule und Lehrerinnenaus- und -fortbildung. Veröffentlichungen im pädagogischen und religionswissenschaftlichen Bereich. War an religionssoziologischen Forschungen zu "Jugend und Religion" beteiligt.