Musik zum Vergessen und Erinnern

Neues von Squarepusher und Wunder.

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Die neuen Alben von Squarepusher und Wunder, so verschieden sie auch sind, besetzen musikalisches Terrain, das ohne Drum&Bass nicht denkbar wäre, aber trotzdem ohne dessen Schemata auskommt und deshalb einen möglicherweise neuen Ansatzpunkt markiert.

Tom Jenkinson alias Squarepusher wird von den Leuten vor allem deswegen gemocht, weil er die Komplexität von Drum&Bass in Regionen verschoben hat, in denen man nicht mehr tanzen muß, sondern mit Vergnügen zuhören darf: Das alles ist also möglich, rhythmisch gesehen.

Der jenkinsonschen Vorliebe für völlige verdrehte und ins Irrwitzige übertriebene Breakbeats, die in ihrem Wunsch nach ständiger Veränderung beinahe manisch Haken schlagen und trotzdem elegant vor sich hin zischen, hat man dann auch schnell einen merkwürdigen Namen verpasst: Drill'n'Bass - weil man mit einem schicken Label Musik bekanntermaßen verkaufen kann. Jetzt hat Jenkinson mit "Music Is Rotted One Note" quasi eine Free Jazz Platte auf den Markt geworfen, und alle wundern sich. Erstaunt darf man allerdings nur sein, wenn man schon vorher nicht richtig hingehört hat.

Squarepusher

Auf "Music Is Rotted One Note" wirft Jenkinson wieder einen Blick in die frühen 70er, transformiert dabei aber auch die gewohnten Breakbeats in relativ relaxtes Freistil-Trommeln: Wenn man D&B nur lange genug vom Dancefloor fernhält, muß am Ende sowas wie Free Jazz rauskommen. Jenkinson geht diesen Weg konsequent: Es wird richtig musiziert auf Schlagzeug, Bass, Gitarre und dem Synthesizer. Das Ergebnis oszilliert zwischen elektronischen Miniaturen, die an Sun Ra erinnern, und komischen kommunistischen Free Jazz Platten von Soft Machine oder Matching Mole. So stellen sich historische Verbindungslinien her zu einer Musik, die ebenfalls von sich glauben durfte, fortschrittlich wie keine andere zu sein.

Alles, was Drum&Bass so erfunden hat an Beats, Sounds und Strukturen, muß sich demgegenüber ja trotz aller Bekenntnisse zur Innovation und trotz des Bedürfnisses, Future Sound zu sein, doch immer an den Dancefloor rückkoppeln lassen. Entweder es funktioniert, oder es funktioniert nicht. Diesen gleichermaßen folkloristischen wie modernistischen Zusammenhang von Form und Funktion konnte Jenkinson als Alleinunterhalter seiner selbst immer schon ignorieren. Trotzdem legte er wie die Kollegen von D&B den Willen zum Weiter in detailfreudige Rhythmussequenzen, um das Bedürfnis nach Geschichte dann in gesampleten oder nachgestellten Melodien zu befriedigen, die irgendwo aus der Welt afroamerikanischer Popmusik entwendet wurden: Momente aus Jazz, Fusion, Funk, Brazil Pop dienten der Rückbindung des Weiter an das Gestern.

Jetzt, da die Sequenzer und Sampler ganz abgeschaltet sind, der eigentliche Ort von Squarepusher also verschwunden ist, stellt sich eine merkwürdige Form von Entspannung ein, die von swingenden, manuell eingespielten Rhythmen transportiert wird. Trotz allem bleibt "Music Is Rotted One Note" natürlich Lichtjahre von Easy Listening entfernt. Achtung Kunst! sagt das CD-Cover, das auf grauem Hintergrund nicht mehr entzifferbare Worte aus Bleistift oder Kohle zeigt, verwischt unter einem Grauschleier von darüberliegenden Pigment-Sedimenten. Hier lauert der Zerfall, das Vergessen und die Verwirrung: Wer weiterkommen will, muß das wohl in Kauf nehmen. Mal sehen, wie, wann und als welcher Jenkinson am anderen Ende wieder rauskommt.

Wunder

Wo die einen vergessen wollen, versuchen sich die anderen zu erinnern. Auf Karaoke Kalk, einem kleinem Label aus Köln, wurden bis jetzt ebenfalls die Möglichkeiten von Elektronik nach dem Dancefloor ausgelotet. Man benutzte rhythmische Versatzstücke aus Drum&Bass bis HipHop und hörte auch mal bei Technopionieren wie dem damals in Düsseldorf beheimateten Plan nach, um dichte Athmosphären zu schaffen. Aus der meist eher darken Stimmung, die die dunklen Seiten von D&B und Techno neu zu interpretieren versuchte, blinzeln auf "Wunder", der siebten und jüngsten Veröffentlichung des Labels erst jetzt die Sonnenstrahlen von Pop.

Jörg Follert, der als Saucer und als Teil von Motel bereits für Karaoke Kalk aktiv wurde, benutzt Samples gleichberechtigt mit selbst eingespielten Sounds bis man gar nicht mehr von Elektronik sprechen mag. Wie Squarepushers "Music" ist auch Wunder natürlich ohne den Club vorher nicht denkbar. Während aber Squarepusher die neugewonnene Fähigkeit von Post-Dancefloor Musik, nämlich Übereinkunft und Freude auch in die Welt von Autoradios und heimischen Stereoanlagen tragen zu können, inzwischen beinahe vollständig dem kompromißlosen Statement opfert, sagt Wunder emphatisch ja zu Melodien und Verweisen, ohne gleich wieder Songs basteln zu wollen.

Wunder spielt mit Wiederholungen und Schleifen, benutzt aber Schnipsel klassischer Instrumentierungen. Gitarren, Pianos, Orgeln, Xylophone und wunderschöne Streicher transportieren ineinander verwobenene Melodiefragmente, die über eher langsamen, schläfrig-jazzigen Beats lagern. Nicht Soundtracks für Träume, sondern Soundtracks von Träumen. Akustische Karten von halbverschütteten Erinnerungen, zu Mini-Hörspielen remixte Sounds aus dem Alltag und Fundstücke aus dem kollektiven Gedächtnis von Pop. Kinderstimmen, die von Kakao sprechen. Billie Holiday singt: "Look out for yourself..." Glück passiert irgendwo in den Zwischenräumen von Neuronen. Wunder sind zwar präsent, liegen aber unter einem Schleier. Auf dem Label der einen Seite der Platte kann man ein Kinderfoto sehen, auf der anderen ein paar Badelatschen. Schöne Erinnerungen machen sich gerade an den Banalitäten des Alltags fest. Und erst wenn man sich morgens nicht mehr an seine Träume erinnern kann, weiß man, wofür Fotoapparate und Sampler gut sind.

Squarepusher: Music is rotted one note. (Warp/Rough Trade)
Wunder (Karaoke Kalk/Formic/Groove Attack)