NSU-Affäre: Strafvereitelung im Amt?

Seite 2: Staatsanwalt: Eine "schwarze Schlucht" und Nebelfetzen

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Später wurde der Oberstaatsanwalt noch drastischer und sprach von einer "schwarzen Schlucht", in die die Bundesanwaltschaft bei "diesem Phänomen NSU" anfangs geguckt hätte. Und bis heute hingen darin "Nebelfetzen". Souveränität der mächtigsten Ermittlungsinstanz des Staates sieht anders aus. Vielleicht ist es nur ehrlich.

Die Auseinandersetzung offenbarte aber eine Haltung des BAW-Vertreters, die im Laufe seiner fünfstündigen Vernehmung immer konsequenter und klarer wurde. Aus den Einzelfällen ergibt sich ein Bild einer Ermittlungsstrategie. Alles wird darauf ausgerichtet, die Täterschaft von Böhnhardt und Mundlos zu belegen, andere Spuren zu vernachlässigen, den Personenkreis um das NSU-Trio eng zu ziehen und mögliche Taten von Personen aus dem Umfeld abzuschwächen, so dass auch Verjährungen greifen. Beispielsweise in dem von "Unterstützung" der Täter ausgegangen wird statt von "Beihilfe zum Mord". Eine Tendenz der Minimierung.

Und mit genau dieser Methode gehen die obersten Ermittler auch an den brisanten Fall Ralf Marschner heran. Der könnte nämlich belegen, dass der "Nationalsozialistische Untergrund" größer war als drei Leute und dass der Verfassungsschutz dazugehörte. Die Vernehmung Weingartens machte diesen Verdacht wahrscheinlicher.

Insgesamt gibt es bisher vier Zeugen, die über einen Kontakt des Trios mit Marschner berichteten. Bei allen bezweifelt die Behörde die "Validität" (O-Ton Weingarten) der Aussage. Sprich: Sie werden abgewertet und Fall für Fall wegdefiniert. Auch bei dem jüngsten Zeugen Arne-Andreas E., dem Bauleiter eines Auftraggebers von Marschner, der in einer ARD-Fernsehdokumentation von Anfang April 2016 sagte, sich an Uwe Mundlos in der Bautruppe zu erinnern.

Laut Weingarten dauerten die Ermittlungen diesbezüglich an, weshalb er in öffentlicher Sitzung nichts dazu sagen wollte. Nur so viel: Die "Wiedererkennungsleistung" des Zeugen sei "hochproblematisch". E. hatte Mundlos auf einem Foto erkannt, dass ihm Journalisten vorgelegt hatten. Was Weingarten hinterher in geschlossener Sitzung den Abgeordneten erzählte, ist nicht bekannt.

Zeuge Jens G.

Dann ist da noch der Zeuge Jens G., Rechtsextremist, Bekannter und Mitarbeiter Marschners - und früherer Nachbar des Trios. G. wohnt in der Polenzstraße 5 in Zwickau, schräg gegenüber der Polenzstraße 2, wo Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe sieben Jahre lang, von 2001 bis 2008, untergekommen waren und Zschäpe einen engen Kontakt mit den Nachbarn pflegte. Ausgerechnet in jener Zeit wurden neun der zehn Morde verübt, der Nagelbombenanschlag in Köln und neun von 15 Banküberfällen. Alles vorbereitet in der Wohnung Polenzstraße 2, ohne dass irgendjemand etwas mitbekommt?

Bei seiner Vernehmung sprach Jens G. den Satz, er habe "die drei nie bewusst gesehen". Dann endet die Vernehmung. Der Ausschuss will von Weingarten wissen, warum nicht weitergefragt wurde. Zum Beispiel, wen Herr G. denn "bewusst gesehen" habe. Binninger: "Wenn die Vernehmungen in dieser Qualität weitergehen, werden wir noch lange nach Leuten, die etwas wissen, suchen müssen." Weingartens Antwort ist unglaublich: "Ich habe Verständnis für die Art und Weise der Nicht-Befragung." Er sagt tatsächlich "Nicht-Befragung". Der Zeuge G. habe mit dem Satz ja zu erkennen gegeben, dass er nicht kooperieren wolle, also brauche man gar nicht weiterfragen.

Nicht nur, dass damit das Handwerk der Kriminalpolizei bestritten wird - wozu sich der Oberstaatsanwalt in Diensten der Bundesanwaltschaft, angesiedelt beim Bundesgerichtshof, bekennt, ist nichts weniger, als bewusst nicht zu ermitteln oder nur zum Schein zu ermitteln. Strenggenommen stellt sich die Frage der Strafvereitelung im Amt.

Auch die Abgeordneten äußerten ihr Unverständnis über eine derartige Arbeitsweise.

Personalie Marschner "komplett als geheim eingestuft"

Marschner wurde zwei Mal in der Schweiz vernommen, wo er wohnt. Das nimmt in Amtshilfe ein Schweizer Staatsanwalt vor. Deutsche Ermittler dürfen nur dabeisitzen, aber nichts fragen. Ob es nicht nötig wäre, Marschner selber persönlich zu vernehmen, also in Deutschland, so der Ausschuss. Auch diese Frage wollte Weingarten seltsamerweise nicht in öffentlicher Sitzung beantworten.

Grund: Die Personalie Marschner ist vom Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) "komplett als geheim eingestuft" (O-Ton Weingarten). Die Ermittler des Bundeskriminalamtes konnten beim BfV Einsicht in die Marschner-Akten nehmen, so Weingarten weiter, allerdings nicht in die Auswertungs-, sondern nur in die Beschaffungsakten. Und ob die vollständig waren, ist unsicher. Auffällig ist hier die Unterordnung der Bundesanwaltschaft unter das BfV. Man könnte auch sagen, die Karlsruher Behörde versteckt sich hinter dem Kölner Amt.

Die wirkliche Entscheidung im Falle Ralf Marschner wird aber in der Bundesregierung getroffen. Das machte die folgende Ausführung Weingartens deutlich: "Die Informationen des BfV über Marschner sind nicht nur VS eingestuft, [Verschlusssache] sondern außerdem als nicht gerichtsverwertbar gestempelt. Ein Nullum. Wenn es hart auf hart kommt, werden die Akten vom Bundesinnenministerium gesperrt. Wir haben deshalb diese Bemühung nicht unternommen, sie uns vorzulegen." Sprich: Der Generalbundesanwalt lässt die Finger von Marschner, weil der V-Mann absolute und oberste Chefsache ist. Da ist sie wieder, die politische Dimension des NSU-Komplexes.

Umso nötiger wäre es, Ralf Marschner auch im Untersuchungsausschuss des Hoheitsträgers Bundestag zu vernehmen. Mit seiner entsprechenden Frage an den Vertreter der Bundesanwaltschaft hat der Ausschuss nebenbei eigentlich für sich die Antwort ja gegeben. Allerdings haben sich die Obleute bisher immer noch nicht dazu durchgerungen, den Mann als Zeugen zu laden.

Der letzte Zeuge des Sitzungstages: Im Auftrag des Ausschusses recherchiert der Sozialarbeiter Jörg B. zur Zeit in Zwickau nach Spuren des Trios in der rechtsextremen Szene. Er kennt die Szene seit Jahren, kannte Ralf Marschner und wohnte selber in Straßen, in denen auch Marschner wohnte. Das Trio Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe kannte er aber nicht.

Doch B. präsentierte den Abgeordneten eine Information, nach der das Trio im Jahre 2004 auf einem studentischen Fest, dem Treppenfest, gesehen worden sein soll. Jemand aus der Skinheadszene habe damals außerdem gesagt, die drei hätten "etwas Krasses" vor. Der Ausschuss will dem nun weiter nachgehen. Gefragt, ob er sich vorstellen könne, dass Marschner und das Trio sich während all der gemeinsamen Jahre in der Stadt nicht gekannt haben, antwortete er: "Das kann ich mir nicht vorstellen. Die Szene in Zwickau war und ist übersichtlich."