NSU-Ermittlungen: Schirmte die Bundesanwaltschaft den Verfassungsschutz gegenüber dem Bundeskriminalamt ab?

Untersuchungsausschuss des Bundestages spürt Lücken und Ungereimtheiten auf

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Was für eine Rolle spielt die Bundesanwaltschaft (BAW) bei den Ermittlungen zur NSU-Mordserie? Filtert sie Informationen der Nachrichtendienste gegenüber den Fahndern? Fragen, die sich in der jüngsten Sitzung des Untersuchungsausschusses II am 17. März auftaten.

Andererseits hatten fünf Ermittler des Bundeskriminalamtes (BKA), die als Zeugen gehört wurden, auf viele Fragen des Bundestagsgremiums keine Antwort. Die Ermittlungsarbeit von BAW und BKA, seit dem Bekanntwerden des Terrortrios im November 2011 Basis entscheidender Schlüsse und Beurteilungen in dem Mordkomplex, ist mehr und mehr in Zweifel gezogen, zahlreichen Mängel und Lücken werden sichtbar.

Am 11. November 2011 hatte der Generalbundesanwalt die Ermittlungen in der Sache "NSU" übernommen - die oberste Strafverfolgungsbehörde der Bundesrepublik Deutschland, seitdem Herrin des gesamten NSU-Verfahrens. Sie beauftragt das BKA mit den konkreten Ermittlungen. Leiter der Abteilung Zentrale Ermittlungen in der Besonderen Aufbauorganisation (BAO) Trio des BKA war der heutige Kriminaldirektor Frank Heimann. Seine Abteilung hatte 170 Kräfte.

Generalbundesanwaltliches Kontaktverbot

Noch im November 2011 soll der Generalbundesanwalt das BKA angewiesen haben, auf keinen Fall selber an die Verfassungsschutzämter heranzutreten. Das geht aus einem Vermerk vom 23. November hervor, den der Ausschuss vorliegen hat. Heimann bestätigt das. Der Generalbundesanwalt habe sich ausbedungen, dass bestimmte Kontakte, zum Beispiel zu den Landesverfassungsämtern, nur über ihn zu gehen haben.

"Was war der Grund für dieses Kontaktverbot?", will das Ausschussmitglied Uli Grötsch, SPD, wissen.

"Ich will es nicht Kontaktverbot nennen", antwortet Heimann, "sondern würde es als Arbeitsteilung beschreiben."

"Aber was war der Grund?"

"Vielleicht hat es mit dem Mord in Kassel zu tun. Da gab es eine konkrete Verweigerung, Informationen aus den alten Ermittlungsakten zur Verfügung zu stellen."

Bei dem Mord in Kassel an dem deutsch-türkischen Inhaber eines Internetcafés war ein Verfassungsschutzbeamter anwesend. Welche Rolle er spielte, ist bis heute nicht aufgeklärt.

"Hat es nicht eine Brisanz, wenn die Bundesanwaltschaft solche Ermittlungen selber machen will?", fragt der Ausschuss weiter. "Das will ich so nicht sagen", antwortet der BKA-Mann. Die Abgeordnete Irene Mihalic, Bündnisgrüne, selber von Beruf Polizistin, widerspricht: "Der Generalbundesanwalt ermittelt doch nicht selber operativ, sondern das macht die Polizei!" Und fragt: "Wie gelangten denn die Erkenntnisse des GBA an die Polizei?"

Ein Satz wie ein Offenbarungseid

Heimann: "Ich gehe davon aus, dass sie uns zur Kenntnis gelangt sind." - Doch Mihalic zweifelt. Für sie sei immer weniger klar, wie sich die Zusammenarbeit der Ermittler mit dem Verfassungsschutz gestaltete. "Wie war der Austausch zwischen GBA und BKA?", will sie wissen - und: "Hatten Sie nicht den Verdacht, dass Ihnen Informationen vorenthalten werden?"

Antwort Frank Heimann: "Das ist natürlich schwer zu sagen. Wenn Sie keine Auskunft kriegen, wissen Sie das ja nicht." Ein Satz wie ein Offenbarungseid. Dann ergänzt er noch: "Es gab Situationen, wo ich mir eine flüssigere Informationsübermittlung gewünscht hätte."

Nerv im NSU-Komplex

Die Rolle des Verfassungsschutzes ist ein Nerv im NSU-Komplex. Das Trio Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos, Beate Zschäpe war in Chemnitz und Zwickau von mindestens zwei Dutzend V-Leuten geradezu "umzingelt" (Petra Pau, Obfrau der Linkspartei im Ausschuss). Einige sind enttarnt, andere noch nicht. Den Überblick muss die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe haben. Sie ist auch in die Rekrutierung von V-Personen eingebunden, wenn das in laufenden Strafverfahren geschieht.

Wie bei Thomas Starke, der im November 2000 vom LKA Berlin während des Prozesses gegen Mitglieder der rechtsextremen Band Landser als V-Person angeworben wurde. Er hatte 1998 dem untergetauchten Trio aus Jena in Chemnitz den ersten Unterschlupft besorgt. Starke, der sich heute Müller nennt, ist einer der neun weiteren Beschuldigten im NSU-Verfahren. Die BAW ermittelt auch gegen Starke, ohne dass sich bisher eine Anklageerhebung andeutet.

Die Personalie Ralf H.

Mit Starke hängt die Personalie Ralf H. zusammen. Dessen Personalausweis wurde im Brandschutt des Hauses in der Frühlingstraße in Zwickau gefunden. H. zählte zur Chemnitzer Neonazi-Szene und war mit Thomas Starke befreundet. Laut Medienberichten, so Petra Pau, soll der Verfassungsschutz die Absicht gehabt haben, H. anzuwerben.

Gibt es im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) oder im Landesamt in Sachsen eine Akte zu Ralf H.? Pau formuliert die "Bitte" an die Bundesregierung, diese Unterlagen, falls es sie gibt, doch dem Ausschuss vorzulegen. Die Vertreter der Bundesregierung, die mit im Rund sitzen, nicken. Ihnen bleibt nichts anderes übrig. Wie die Bitte erfüllt wird, wird man sehen. Ebenso, wie der Ausschuss das Ergebnis überprüft.

Ralf Marschner war nachgewiesenermaßen V-Mann des BfV in der rechtsextremen Szene in Zwickau und mit dem Trio gut bekannt (vgl. Was passierte am 4. November 2011 in Zwickau?). Der Ausschuss fragt auch den BKA-Ermittler Heimann nach Marschner. Dass der eine V-Person war, sei bei den Ermittlungen bekannt geworden, räumt Heimann ein. Der sei aber nicht selber Gegenstand der Ermittlungen gewesen. Marschner verließ nach dem Polizistenmord von Heilbronn im April 2007 "über Nacht das Land" (Clemens Binninger, Ausschussvorsitzender, CDU) und soll heute in der Schweiz leben

Der NSU-Untersuchungsausschuss No. 2 arbeitet mit den Unterlagen des BKA. Mit dessen eigenem Material weist er den Ermittlern Fehler, Mängel, Versäumnisse, willkürliche Bewertungen nach. Bei den Befragungen der fünf BKA-Mitarbeiter hörte sich das beispielhaft so an:

Wie viele Menschen haben in der Wohnung Frühlingstraße in Zwickau gelebt? War einer gar nicht regelmäßig da und wer? - Wir sind da nicht weitergekommen.

Die Überwachungskameras am Haus wurden erst eingerichtet, nachdem das Trio mit seinen Taten aufgehört hatte. Welchen Sinn macht das? - Vielleicht fühlten sie sich nicht sicher.

Wann wurden die Kameras installiert? - Konnte nicht ermittelt werden.

Haben Sie anhand der Videoaufzeichnungen ausgewertet, wer von Böhnhardt und Mundlos wenig auftaucht? - Dazu hatte ich keinen Auftrag.

Vom 31. Oktober bis 3. November 2011 gab es in der Frühlingstraße keine Internetnutzung. Sind die drei nicht dagewesen? - Das ist nicht so ungewöhnlich.

Am 1. November wollte sich vermutlich Beate Zschäpe mit einem Taxi zu einem Anwalt in der Polenzstraße fahren lassen. Sagt Ihnen die Polenzstraße etwas? - Im Moment nicht mehr.

Ausschuss: In der Polenzstraße 2 hat das Trio jahrelang gewohnt.

Böhnhardt und Mundlos nahmen Beute aus einem anderen Banküberfall mit zum nächsten Banküberfall in Eisenach. Ist das nicht absurd? - Es sei denn, man muss fliehen.

Wie hat Zschäpe von den Ereignissen in Eisenach erfahren? - Wir konnten es bis zum Schluss nicht sagen.

Was macht Sie so sicher, dass Zschäpe am 4. November in der Wohnung saß? - Wir haben keinen Hinweis auf eine andere Person.

Zschäpe floh vier Tage lang durch Deutschland: Unter anderem nach Chemnitz, Leipzig, Eisenach, Bremen, Hamburg, eventuell Braunschweig, Uelzen, Magdeburg, Jena. Warum diese Orte? - Vielleicht wegen ihrer emotionalen Ausnahmesituation.

Sie kennen nicht alle Fahrzeuganmietungen, richtig? - Ja, das ist so. Wir konnten nicht zu jeder Straftat eine Anmietung finden.

Ein Fahrzeugvermieter des Trios fuhr am Tag des Polizistenmordes von Heilbronn ebenfalls in Heilbronn vorbei. Zufall? - Das ist vielleicht tatsächlich ein Zufall, an den man nicht glaubt.

Wie kamen die Täter auf ihre Opfer an diesen Orten? - Die Frage haben wir uns auch lange gestellt. Wir können nicht sagen, welcher Mord welchen Hintergrund hat.

Sind Ihnen diese ganzen Widersprüche nicht selber aufgefallen? - Doch. Wir haben permanent diskutiert, die Presse verfolgt, Verschwörungstheorien verfolgt, aber nicht für alles eine Erklärung gefunden.

Vermeintliche Wahrheiten driften unversöhnlich auseinander

Möglicherweise hat auch die Struktur der BAO Trio beim BKA zur Verwirrung beigetragen. Über 400 Beamte, die isoliert einzelne Aufträge abzuarbeiten hatten. "Kleinteilig", nennt das Clemens Binninger: "Für jede Spur ein Kommissar."

Es ist nichts Geringeres, als die zentralen Ermittlungen in der NSU-Terrorserie, die in Frage gestellt sind. Auch durch die Arbeit dieses Ausschusses. Schon das Oberlandesgericht in München, wo Beate Zschäpe, Ralf Wohlleben und drei weitere Männer angeklagt sind, hat wegen Ermittlungsmängeln verschiedene Nachermittlungen veranlasst. Beispielsweise über die Sprengkraft der beiden Bomben in Köln in der Probsteigasse im Januar 2001 und in der Keupstraße im Juni 2004. Und auch aktuell finden weiterhin vielerlei Ermittlungen im NSU-Komplex statt. Warum, wenn doch Alles in der Vergangenheit liegen soll?

Der U-Ausschuss des Bundestages nimmt seit Anfang des Jahres die bisherigen Ermittlungen regelrecht auseinander. Ein ums andere Mal müssen die Ermittler Antworten schuldig bleiben. Sie werden regelrecht vorgeführt. Das mag zwar nicht die Absicht des Ausschusses sein, es ist aber das Ergebnis. Zu Hilfe kommt einigen Abgeordneten ihre eigene berufliche Qualifikation: Nicht weniger als sechs Mitglieder des Ausschusses sind Polizisten. Abgeordnete als die besseren Ermittler?

Fest steht: Die vermeintlichen Wahrheiten über den "Nationalsozialistischen Untergrund" driften unversöhnlich auseinander. Hier der Generalbundesanwalt als die maßgebliche Ermittlungs- und Deutungsinstanz der BRD, der sagt: Der NSU bestand aus drei Personen und ist mit dem Tod der Männer aufgelöst. Dort der Untersuchungsausschuss des Bundestages, der Fragen formuliert, wie die von Armin Schuster, CDU: Kennen wir eigentlich dieses Netzwerk wirklich? Kennen wir alle Unterstützer? Kennen wir eigentlich den Kopf schon?