NSU als Argument für mehr Geheimdienstbefugnisse
Das Bundesverfassungsgericht überprüft Bayerns Verfassungsschutzgesetz. Innenminister Herrmann argumentiert ausgerechnet mit dem "Nationalsozialistischen Untergrund"
Während das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe die Überwachungsbefugnisse des Inlandsgeheimdienstes im Bayerischen Verfassungsschutzgesetz überprüft, weil Mitglieder linker und antifaschistischer Organisationen dagegen Beschwerde eingereicht haben, verteidigt Bayern Innenminister Joachim Herrmann (CSU) das 2016 verabschiedete Gesetz ausgerechnet mit Blick auf den NSU-Skandal.
Um die Jahrtausendwende hatten Verfassungsschutzämter Hinweise auf den Verbleib von drei untergetauchten "Bombenbastlern" aus der rechten Szene Thüringens nicht an die Polizei weitergegeben, was zur ungestörten Genese das "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) geführt hatte.
Nach Bekanntwerden des NSU sei schließlich beanstandet worden, dass es "zu wenig gegenseitige Informationen der Sicherheitsbehörden" gegeben habe, sagte Herrmann am Dienstag Reportern der ARD-tagesschau. Die Kläger, über deren Beschwerde am Dienstag in Karlsruhe mündlich verhandelt wurde, waren allerdings nie wegen eines Terrorverdachts untergetaucht. Sie hatten im Gegenteil Öffentlichkeitsarbeit für ihre Überzeugungen geleistet und von ihrem Demonstrationsrecht Gebrauch gemacht.
"Linksextremistisch beeinflusst"
Sie sind unter anderem Mitglieder der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA), die im bayerischen Verfassungsschutzbericht auf Seite 258 als "linksextremistisch beeinflusst" erwähnt wird. Deshalb könnten sie in Bayern von Überwachungsmethoden betroffen sein, die weit über die Befugnisse von Geheimdiensten anderer Bundesländer hinausgehen: Zum Beispiel von optischer und akustischer Überwachung von Wohnungen, verdeckten Zugriffen auf Computer oder der Ortung von Handys.
Koordiniert wird die Beschwerde von der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF). Sie verweist auf mögliche Verletzungen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, teilweise auch der Unverletzlichkeit der Wohnung und des Fernmeldegeheimnisses. Besonders das Verschwimmen der Zuständigkeiten von Polizei und Geheimdiensten im bayerischen Verfassungsschutzrecht habe vor Gericht einige Fragen aufgeworfen, stellte die GFF nach der mündlichen Verhandlung fest.
Einer der Beschwerdeführer war sogar schon namentlich im bayerischen Verfassungsschutzbericht erwähnt worden und musste sich juristisch gegen berufliche Nachteile wehren, weil er ins Visier des Inlandsgeheimdienstes geraten war: 2016 hatte der Verfassungsschutz versucht, die Anstellung des Münchner Kommunikationswissenschaftlers Kerem Schamberger an der Ludwig-Maximilians-Universität zu verhindern, weil dieser sich selbst als Kommunist bezeichnet und zur Solidarität mit kurdischen Organisationen aufgerufen hatte.
Damals war er noch Mitglied der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), heute gehört er die Partei Die Linke an, distanzierte sich aber nie von der Selbstbezeichnung als Kommunist. Aus den Prozessakten eines Verfahrens, das wegen vermeintlich verbotener Fahnen der syrisch-kurdischen Volks- und Frauenverteidigungskräfte gegen ihn angestrengt wurde, weiß er, dass die Überwachung auch nach dem Scheitern dieses "Berufsverbots" weiterging.
"Perfide und absurd"
Dass der bayerische Innenminister ausgerechnet mit dem NSU-Skandal argumentiert, nennt Schamberger "perfide und absurd": "Der Verfassungsschutz, ich spreche lieber vom Inlandsgeheimdienst, war selbst am NSU-Komplex und an der Deckung der Täter:innen beteiligt", sagte Schamberger am Dienstagabend gegenüber Telepolis. Es gebe in Deutschland genug Sicherheits- und Überwachungsbehörden. "Der Verfassungsschutz hat genug Dreck am Stecken, um aufgelöst zu werden, statt ihn mit weiteren Kompetenzen und Befugnissen auszustatten."
Das Bundesverfassungsgericht will sein Urteil erst im kommenden Jahr verkünden. Dass es überhaupt zur mündlichen Verhandlung kam, ist aber schon als Erfolg der Initiatoren zu werten, denn das gelingt nicht bei allen Verfassungsbeschwerden.
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