NSU und Verfassungsschutz und kein Ende

Seite 2: Systematische Sabotage der Ermittlungen

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Im selben Jahr, als Szczepanski als V-Mann des LfV Brandenburg abgeschaltet wurde, wurde Toni S. als V-Mann verpflichtet. Auch sein Fall ist ein Lehrstück über das Handeln eines Geheimdienstes im selbstgeschaffenen rechtsfreien Raum, bis hin zu offen strafbarem Tun.

Das begann bereits bei der Rekrutierung des Kandidaten. Die Anwerber nutzten den Umstand aus, dass Toni S. Auto fuhr, ohne einen Führerschein zu besitzen. Sie stellten ihn vor die Alternative: Kooperation oder Strafverfahren. "Kompromat" nennen das die Geheimdienste. Es sei "Richtung Erpressung" gegangen, gestand der damalige Brandenburger LfV-Chef jetzt im NSU-Ausschuss.

Toni S. jedenfalls entschied sich für die Spitzeltätigkeit. Die Zahlungen des Dienstes sollten ihn vollends überzeugen. In der Folge war der Neonazi im Staatsauftrag an Herstellung und Vertrieb inkriminierter CDs beteiligt, auf denen unter anderem Mordaufrufe kundgetan und der Holocaust bejubelt wurden. Diesen Einsatz eines V-Mannes nannte der Behördenchef seine "gravierendste Fehlentscheidung" und "Tiefpunkt" seiner beruflichen Tätigkeit, für die er sich heute "in aller Form entschuldigen" wolle.

Allerdings müsste der Entschuldigungsbedarf noch größer und grundsätzlicher ausfallen.

Die Ermittler waren dem CD-Handel auf der Fährte. Außerdem wurden Ermittlungen gegen die Band Landser eingeleitet, von der eine der CDs stammte, an deren Vertrieb Toni S. zusammen mit Leuten aus dem unmittelbaren Umfeld des untergetauchten Trios Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe ebenfalls mitbeteiligt war.

Der Verfassungsschutz organisierte die systematische Sabotage der Ermittlungen. Eine bevorstehende Razzia wurde an Toni S. verraten. Er räumte seine Wohnung leer. Der Verfassungsschutz tauschte seinen Computer gegen einen alten, "sauberen" aus. Am Tag der Durchsuchung begleiteten außerdem zwei VS-Beamte die Kriminalbeamten bei der Aktion. Auch darüber war Toni S. im Vorfeld informiert.

Das habe "jeglichen Vorschriften widersprochen", so jetzt der VS-Chef gegenüber den Abgeordneten. Allerdings hat sich nahezu dieselbe Aktion im Zusammenhang mit einer nie aufgeklärten "Nationalen Bewegung" in Brandenburg wiederholt. Auch damals wurde eine Razzia an zwei V-Leute verraten.

Im offiziellen Durchsuchungsbericht im Falle Toni S. wurde die Anwesenheit der beiden Verfassungsschützer verschwiegen. Eine Kriminalkommissarin, die bei der Razzia dabei war, ließ sich aufgrund dieser Erfahrungen danach versetzen.

Dann nahm der Verfassungsschutz Einfluss auf die Staatsanwaltschaft. Er offenbarte ihr gegenüber seinen V-Mann und V-Mann-Führer. Dennoch wollte eine Staatsanwältin beiden den Prozess machen: Toni S. und "Dirk Bartok". Das scheiterte an der Generalstaatsanwaltschaft. Sie zitierte die Staatsanwältin und den vorgesetzten Oberstaatsanwalt zu sich und befahl, das Verfahren gegen den VS-Beamten müsse sofort eingestellt werden.

Damit erreichte der Fall die politische Ebene. Am Management des Problems waren schließlich je zwei Brandenburger und zwei Berliner Staatssekretäre aus den Innen- und den Justizministerien beteiligt. Die Minister beziehungsweise Senatoren ließen sich unterrichten. Über die Generalstaatsanwälte Brandenburgs und Berlins wurde die "Lösung" dann verfügt: Das Verfahren des V-Mann-Führers wurde abgetrennt, an die Staatsanwaltschaft Cottbus abgegeben und Jahre später folgenlos eingestellt. Danach quittierte der Beamte den Dienst. Das Verfahren gegen Toni S. endete mit einer Bewährungsstrafe.

Ein Rechtsstaat, der sich nicht dagegen wehren kann, dass seine Regeln und Prinzipien wie auf dem Basar verramscht werden.

"Zusammenarbeitsrichtlinie"

Der Fall Toni S. passt haargenau zur wenig bekannten "Zusammenarbeitsrichtlinie" zwischen den bundesdeutschen Geheimdiensten, den Staatsanwaltschaften und der Polizei. Danach können Verfassungsschutz, Bundesnachrichtendienst (BND) und Militärischer Abschirmdienst (MAD) die Staatsanwaltschaften dazu bewegen, Ermittlungen anzuhalten, wenn sie es für geboten erachten. Zum Beispiel, weil sie sich gegen einen Beamten oder eine V-Person richten. Das gilt selbst für Prozesse. Die Nachrichtendienste können erwirken, dass ihre Kontaktpersonen nicht als Zeugen vor Gericht erscheinen müssen.

Eine Richtlinie, aber kein Gesetz. Sie musste nicht groß öffentlich debattiert werden, als der Sicherheitsapparat sie sich im Jahre 1973 selbst gab. Interessant wäre zu wissen, ob diese Richtlinie zum Beispiel auch im NSU-Prozess in München zur Anwendung kam. Die Nebenklage hatte wiederholt V-Leute als Zeugen beantragt, die aber nicht geladen wurden, wie Ralf Marschner oder Michael See.

Der Fall Toni S. und der Prozess gegen ihn, sorgte 2002 für Aufsehen. Heute weiß man, dass diese Figur und der Dienst, für den sie unterwegs war, in die NSU-Geschichte hineingehören. Das heißt umgekehrt: Der NSU entsprang diesem Sumpf aus Rechtsextremismus, organisierter Kriminalität und Geheimdiensten.