Nach Erfurt jetzt Konsumstreik gegen den Teuro

Flüchtlingshilfe, Kindersex, Amoklauf - egal was, Hauptsache Aufmerksamkeit: Zappender Aufmerksamkeitsaktivismus im Internetzeitalter

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Versendet wurde die Email noch anonym, in der wegen der Teuerung durch die Einführung des Euro zum Kaufstreik am 1. Juli aufgerufen wurde. Viele dürften sie erhalten haben, ihr Inhalt trifft etwas in der Seele vieler Deutscher, die trotz anderslautender Statistiken glauben, dass alles teurer geworden ist, nachdem wir uns von der Mark verabschiedet haben. Doch lange konnte es der Initiator der Aktion nicht im Geheimen aushalten.

"Was jetzt kommt, ist kein Scherz: Es soll ein Zeichen gesetzt werden. Stellt euch vor, ganz Deutschland kauft einen Tag lang nichts ein. Wenn alle beim Streik mitmachen, trägt jeder dazu bei, dass den Abzocke-Verantwortlichen die Augen geöffnet werden." So konnte man in der Mail lesen, die vom Empfänger im Sinne einer viralen Ansteckung an möglichst viele Menschen weiter geschickt werden sollte.

Die Süddeutsche Zeitung schreibt zwar noch immer, dass "ein unbekannter Internetnutzer" eine Mail verschickt habe, "die inzwischen schon in ganz Deutschland für Gesprächsstoff sorgt". Möglicherweise war Journalistin angesichts des Themas, das noch dazu mit Emails zusammenhängt, so aufgeregt, dass sie "vergessen" hat, sich einmal schnell kundig zu machen, er hinter der Aktion stehen könnte. Wahrscheinlich aber hat das Anonyme gefallen. Denn in dem Artikel in der heutigen SZ wird nochmals betont, dass der Urheber der Mail anonym bleibt.

Der Urheber, als Aufmerksamkeitstäter keineswegs mehr unbekannt und jede Chance nutzend, sich in den medialen Vordergrund zu spielen, was er zuletzt mit dem angeblichen Cracken der gefaketen Homepage des Erfurter Amokläufers Steinhäuser erreicht hat, hielt es lange in der Anonymität nicht aus (Die FAZ und die Trittbrettfahrer). Was immer K. mit seinen Aufmerksamkeitsaktionen bezwecken will, so gelingt ihm wenigstens kurzzeitig ein Coup, denn offenbar hat er einen Riecher für brisante Themen.

Die SZ-Journalistin hätte zwar nicht einmal wagemutig auf eigene Faust im Intrenet recherchieren müssen, um den Initiator ausfindig zu machen. Auch ein Blick in andere Zeitungen wie etwa dem Tagesspiegel hätte schon geholfen. Dort erfährt man, wie eifrig Kastius bereits durch die Lande tourt, um den Streik zu organisieren - und wie groß die Nachfrage der Presse ist. Das ist schön für Kastius, der auf seiner eigens eingerichteten Website www.kaufstreik.de natürlich alles sammelt, was über ihn und seine Aktion so geschrieben wird.

Der 25-jährige Ego-Aktionist gibt sich kämpferisch und denkt an "die sozial Schwachen und die Rentner, die sich nicht so leicht wehren können", will "den Preistreibern auf die Finger klopfen" und sieht die Aktion als einen Kampf von David gegen Goliath. Aber er hat auch schon Mitstreiter und hat offenbar vor, die Website, sollte die Aktion gelingen, auszubauen. Da gibt es neben dem Chef Kastius bereits einen "Medienexperten" und einen "Preisprüfer", die Besucher der Website werden dazu aufgerufen, auch Preisprüfer zu werden und "Teuroläden" zu melden, die dann auf der Seite gebrandmarkt werden sollen. Auch wenn hier noch kein Teuroladen aufgeführt wird, so scheint das Webvoting der Aktion großen Erfolg zu versprechen. Will man dem glauben, so haben angeblich von 80108 abgegebenen Stimmen 80056 für den Kaufstreik gestimmt, vielleicht hat man da aber auch ein wenig nachgeholfen.

Im Gästebuch, das am 20. Juni eröffnet wurde, geht es jedenfalls ruhig zu. Dafür gibt Kastius detaillierte Handlungsanweisungen für diejenigen, die mitmachen wollen: "Ein Brot, etwas Butter und Wurst sollte reichen. Mineralwasser, (1 Flasche), sollte genügen. Verzichte bitte auf Hamsterkäufe." Und am großen Kastius-Tag sollen dann auch Telefon und Internet danieder liegen, nur wer Flatrate hat, der darf surfen.

"Vermeide auf jeden Fall, Geld auszugeben. Gehe mit Freunden in einen kostenlosen Park und erhole Dich. Dass Wetter sollte es mitmachen. Verzichte auch auf Schwimbadbesuche oder Behördengänge, wo Du Geld bezahlen musst. Ansonsten kannst Du ja auch Fernsehen. In einer Gesellschaft, in der die Technik eine grosse Rolle spielt, wird man leicht dazu verführt Geld auszugeben. Nun bist Du gerüstet. Zeigen wir es jetzt den schwarzen Schafen, dass wir uns nicht alles gefallen lassen."

Irgendwie will Kastius sich und seine Aufmerksamkeitsaktionen wohl als politisch verstehen, auch wenn sie nur ein Ich-Geschäftsmodell in der Aufmerksamkeitsökonomie sind. Vielleicht ist dieser von Aktion zu Aktion zappende Aufmerksamkeitsaktivismus, der Themen nutzt, um sich selbst darzustellen, tatsächlich ein Symptom für unsere Zeit. Schließlich war es noch nie so leicht als heute mit dem Internet, eine größere Öffentlichkeit zu erreichen und sich in Szene zu setzen, zumal wenn dann die (alten) Massenmedien als Verstärker noch mitspielen. Das will Kastius natürlich nicht aufbinden, und auch hierbei darf er auf Unterstützung der Medien rechnen: "Inzwischen hat die Aktion auf dem Weg des Schneeball-Systems per E-Mail Lawinengröße erreicht. Kastius kann sich vor Antwort-Mails und Presse-Anfragen kaum retten. Damit habe er nie gerechnet, sagt Kastius fast ein wenig eingeschüchtert. Dennoch ist er nach wie vor von der Richtigkeit seiner Aktion überzeugt."

Schon vor zwei Jahren fiel Kastius mit einer Medianaktion auf, wie Burkhard Schröder unlängst schrieb (Update: Aufmerksamkeitstäter):

"Als Betreiber einer "Kosovo Suchhotline" und einer "Suchhotline Erdbeben Türkei" sei er, so berichtete die Berliner Morgenpost" am 28.2.2000, "mit einigen Mitarbeitern selbst im Krisengebiet vor Ort" gewesen. Nur mit der Telekom habe er Probleme: "Besonders die Telefongesellschaften machen uns mit ihrer Finanzpolitik schwer zu schaffen." K. versuchte auf seine Art, Abhilfe zu schaffen. Am 7. Oktober stürmte er in die Livesendung "Berlin am Morgen", zog eine Pistole und drohte damit, sich eine Kugel in den Kopf zu jagen, falls ihm die Telekom nicht die Telefonrechnung erlasse. Die Waffe entpuppte sich als Schreckschusspistole. Und gemeinsam mit so vielen andere dubiosen Personen mit ebenso dubiosen Websites und Motiven kämpfte K., um garantiert zu den Guten zu gehören, gegen Kinderpornografie im Internet. Zu diesem Zweck reservierte er sich die Domain kindersex."

Kastius geht von der Suche nach Flüchtlingen über angebliche Hilfsaktionen oder einer Abschiedsseite für die bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommene Sängerin Melanie Thornton, was als "Betreuung nach Flugzeugabsturz" bezeichnet wird, bis hin zum Amoklauf in Erfurt, einem "Online-Kondolenzbuch für Djerbaopfer" und jetzt der Teuro-Aktion alles ab, was Aufmerksamkeit erzeugen könnte. Die Aktionen selbst dienen bei ihrer Wahllosigkeit einzig der Stilisierung der Person. Kastius will prominent werden. Mal sehen, was ihm als herausragenden Vertreter der Aufmerksamkeitsgesellschaft noch alles einfällt. Bei Suchhotline ist gerade "Sommerpause". Aber man hat ja schon viel erreicht: "8949 Personen durch uns wiedergefunden. 13933 Personen in externer Datenbank gepeichert. 538923 Personen in interner Datenbank gespeichert. 2 Personen noch im Bearbeitungs-Status."